Gerd Schaller und die Sinfonie Festiva spielten im Bad Kissinger Regentenbau ein Werk ein, das der Komponist selbst aus dem Verkehr gezogen hatte.
Der Dirigent Gerd Schaller ist ein Ausgräber. Immer wieder sucht er in den Nischen der Archive und Bibliotheken nach Werken, die in Vergessenheit geraten sind - nicht weil sie es nicht wert waren, aufgeführt zu werden, sondern weil sie im Überangebot der Zeiten und im Wandel des Geschmacks untergegangen sind. Man denke nur an Karl Goldmarks Oper "Merlin" (1886), die er 2009 im Großen Saal mit seinem Münchner Projektorchester, der "Sinfonie Festiva" in konzertanter
Aufführng aus einem hundertjährigen Dornröschenschlaf geweckt hat, sondern die auch vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten wurde. Die Aufnahme wurde in der Fachpresse gefeiert, und sie erhielt - nicht zu Unrecht - einen Echo Klassik.
Jetzt war Gerd Schaller wieder da mit seinem Orchester, und wieder stand der Aufnahmewagen des Bayerischen Rundfunks hinter dem Regentenbau.
Nur war das entscheidende Werk dieses Mal nicht eine Wiedererstaufführung eines vergessenen Lieblings, sondern es ist allgemein bekannt, dass dieses Werk zur Verfügung steht, das aber nur selten aufgefürt wird: eine Sinfonie in d-moll WAB 100, die gerne als "Bruckners Nullte" bezeichnet wird - wer führt schon gerne eine Null auf?
Bei Bruckner im Notenschrank Der Name ist natürlich irreführend.
Er bedeutet nicht, dass die Sinfonie Bruckners Erstling war. Er hatte1869 bereits eine f-moll-Sinfonie , die 1. Sinfonie c-moll - die erste, die es in die offizielle Zählung geschafft hat - und eine Sinfonie B-dur geschrieben, von der allerdings nur eine Skizze des ersten Satzes erhalten ist.Die d-moll-Sinfonie hatte Bruckner, wie jede seiner Sinfonien, nach einiger Kritik wieder zurückgezogen, um sie zu überarbeiten.
Die überarbeitete Fassung ist verschollen, die Urfassung überlebte in Bruckners Notenschrank. Als er 1895 seinen Nachlass sichtete, fand er sie wieder und schrieb selbst in die Partitur Bezeichnungen wie "ungiltig", "annullirt", "nur ein Versuch". Auf das Deckblatt malte er eine große Null und strich sie durch. Uraufgeführt wurde die Sinfonie 1924 von Franz Moißl zu Bruckners 100.
Geburtstag - da war er schon 28 Jahre tot.
Zustandsbestimmung Natürlich musste Gerd Schaller das Werk irgendwann einmal aufnehmen, denn er arbeitet an einer Gesamteinspielung der Brucknerschen Sinfonien. Aber auch ohne diesen Anlass war es hochinteressant, dieses Werk einmal zu hören, weil es das einzige ist, das eine Sinfonie in der Erstfassung zeigt und weil es den kompositorischen Stand des 49-jährigen
"Jungsinfonikers" spiegelt, weil man hier hören konnte, wie und wohin sich Bruckner noch entwickeln würde.
Da war Gerd Schaller der richtige Mann, weil er sehr stark analytisch dirigiert, sehr genau auf die Strukturen zielt und eher zu kammermusikalischer Delikatesse mit ihrer Durchhörbarkeit neigt als zum auftrumpfenden Fortissimo.
Und so wurde sehr deutlich, dass Bruckner durchaus schon zu seinem Individualstil gefunden hatte, sich aber noch nicht ganz von seinen Vorbildern, insbesondere von Felix Mendelssohn-Bartholdy gelöst hatte. Dessen pulsierender Vortrieb findet sich eigentlich in jedem Satz. Und deutlich wurde auch, wie sehr sich Bruckner um neue Harmonien bemühte, sie riskierte und ausprobiert - und womit er sich der Kritik der konventionellen Fraktion aussetzte.
Andererseits verdeckte oder überspielte Schaller die Brüche nicht, die die vielen Denkzäsuren des Komponisten mit sich bringen, die eine gewisse Zerrissenheit bedeuten.
Zum Seminar wurde die Aufführung trotzdem nicht. Dazu war allein schon der dritte Satz, das fulminante Scherzo , viel zu mitreißend musiziert. Da war Bruckner schon ganz bei sich, ohne Selbstzweifel.
Und da langte das Orchester genussvoll hin - wie es überhaupt mit großer Frische und Plastizität der Stimmen musizierte.
Beethoven zur Vorspeise Damit die Sinfonie zum Konzert wurde, stand im ersten Teil Beethovens Violinkonzert mit dem Geiger Ingolf Turban auf dem Programm - eine Aufführung, die diskussionswürdig war.
Das lag nicht am Orchester, das einen sehr klaren, fundierten Part spielte und kreative Impulse setzte. Sondern es lag an Turban. Was keineswegs selbstverständlich ist: Er spielte wirklich alle Töne, die Beethoven zu Papier gebracht hat. Aber mit dieser Genauigkeit brachte er sich unter Druck, artikulierte überstürzt, musste öfter Töne nachjustieren - vor allem im ersten Satz, der von Schaller schon rücksichtsvoll so langsam genommen war, dass man sich zu
fragen begann, wie dann der zweite Satz im Tempo noch abgegrenzt werden sollte.
Was auch überraschte, war, dass Turban die Gestaltung auch dann, wenn er alle Freiheiten hatte, sehr flach hielt, dass er die Möglichkeiten der Dynamik nicht nutzte, um plastisch und spannend zu musizieren wie das Orchester und sein Spiel in einer unspezifischen Einheitslautstärke hielt. Aber entscheidend war ohnehin die Bruckner-Sinfonie.