Nicht an der Schule, sondern an Internet, facebook und Co liegt es, wenn Kinder verstärkt Probleme mit der Rechtschreibung haben - sagen die Lehrer.
Da schmilzt das Mutterherz hin, wenn der Nachwuchs die erste selbst gebastelte und -geschriebene Weihnachtskarte vorlegt. Aber was heißt: "Schüwes Noesia"? Ein "schönes neues Jahr" bringt für Erstklässler und ihre Eltern Neues und oft Aufregendes mit sich. Freudestrahlend kommen die Kinder nach Hause und verkünden: "Wir sollen so schreiben, wie wir reden!" Ungehemmt schreiben und sich mitteilen - Kommunikation kann so einfach sein! Wirklich? Prägen sich so vielleicht eher falsche Schreibweisen ein? Im Internet und bei den Eltern der Erstklässler entsteht der Eindruck, es werde in der Grundschule die Methode "Schreiben nach Gehör" praktiziert. Diese war in anderen Bundesländern erst "hui", nun eher "pfui", und wird wieder aus deren Lehrplänen gestrichen. Wie lernen die Kinder nun das Schreiben?
Marieluise Kremser hat in ihrem Berufsleben "schon viele pädagogische Richtungen erlebt". Sie schimpft. Die 62-Jährige arbeitet als Förderlehrerin an der Mittelschule in Bad Brückenau und beobachtet tagtäglich, dass die Kinder und Jugendlichen große Lese- und Rechtschreib-Probleme haben. Das bestätigen ihr auch Kollegen aus Realschulen und Gymnasien. Sie ist überzeugt: "Das Problem ist hausgemacht".
Mit Schwungübungen und vielen Wiederholungen versucht sie, den verpassten Grundbereich, also das Wissen und Können, das am Ende der vierten Klasse vorhanden sein muss, bei ihren Schülern nachzuholen. Welche Methode derzeit in bayerischen Grundschulen gelehrt wird, wisse sie nicht, doch wenn es "Schreiben nach Gehör" ist, "tun mir die Kinder leid".
Ist es nicht, war es auch nie, betont Christine Wiesner. Sie betreut die Erst- und Zweitklässler an der Grundschule in Motten und berichtigt: "Die Kinder lernen das Schreiben durch genaues Abhören der Laute und Silben". Entgegen der kursierenden Meinung, die schriftlichen Erzeugnisse würden nicht korrigiert, erfolgt von Anfang an eine Kontrolle und Verbesserung. Es ist wahr, dass großer Wert auf das Mitteilungsbedürfnis der Kinder gelegt wird, doch ist der Schriftsprachen-Erwerb klar geregelt: Sukzessiv und durch Wiederholung werden grammatikalische und Schreibregeln aufgebaut. Wichtig ist die bewusste Beschäftigung mit Sprache, das schließt das bewusste Hinhören mit ein.
Rupert Kestler, ehemaliger Schulamtsdirektor am Schulamt Bad Kissingen, schließt sich dem in allen Punkten an. "Schreiben nach Gehör" sei eine "schlagwortartige Vereinfachung". Eigentlich sei es das "phonologische Prinzip". Er versteht die Sorge der Eltern, haben sie Schreiben doch ganz anders, und dennoch erfolgreich gelernt. Mit professionellem pädagogischen Blick jedoch verteidigt er den bayerischen Lehrplan Plus, der gegenüber dem vorherigen Lehrplan von 1981 "schreiborientiert" ist. Regeln und Korrektur sind gegeben. Nicht nur silbisch, sondern auch morphologisch und grammatikalisch geht es mit dem Schreibenlernen weiter, so dass "die Schüler das lauttreue Schreiben als Phase im Schreibprozess bald hinter sich lassen" und die gelernten Rechtsschreibregeln automatisieren.
Was heutzutage bei Kindern - leider automatisch - abläuft, ist der Griff zum Handy. Sowohl Christine Wiesner, als auch Marieluise Kremser sehen hier eine Ursache für Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreiben-Lernen, sei beides für die moderne Nachrichtenübermittlung kaum noch nötig. "Wir sind als Kinder auf jeden Baum fünf Mal raufgeklettert", schwärmt Kremser von ihrer handylosen Kindheit. "Das schult die Motorik". Heute hätten immer mehr Kinder auf Grund von Bewegungsmangel motorische Defizite. Wiesner appelliert, Kindern viel vorzulesen.Und nicht nur in der Kinderartenzeit, genauso wie das richtige Schreiben ein Prozess ist, der sich über die gesamte Grundschulzeit hinzieht.
UrsprungDie Methode "Schreiben nach Gehör" geht zurück auf den Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen (1939-2009). Gemäß seinem Kernsatz "Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden" entwickelte er sein Konzept "Lesen durch Schreiben", das sich gegen die Verwendung der Fibel, aber für den alleinigen Gebrauch der Anlauttabelle wendet. Er selbst bezeichnete sein Konzept als "lesedidaktisches Prinzip". In der ursprünglichen "Reinform" wird nicht nach diesem Konzept unterrichtet, sondern in Kombination mit der "Arbeit an Lauten, Buchstaben und anderen Strukturen der Schriftsprache".
Quelle: Faktencheck Grundschule - Populäre Vorurteile und ihre Widerlegung
Vorwurf Viele Eltern sind der Meinung, dass sich die in den ersten zwei Schuljahren falsch geschriebenen Wörter einprägen und letztendlich in einer Lese-Rechtschreib-Störung resultieren. Dass nicht alle Kinder schlecht schreiben, führen manche darauf zurück, dass sie zusammen mit ihren Kindern Hausaufgaben machen, und zwar nach der alten Methode mit der Fibel.
Kommentar von Stefanie Elm zum ThemaEs war wie die Suche nach "Nessie", dem angeblichen Ungeheuer im schottischen Loch Ness. "Nessie" bestand jedoch nur aus unzureichenden Informationen und ganz viel Mythos. "Nessie" gibt es nicht, genauso wie es das Ungeheuer "Schreiben nach Gehör" nicht gibt, zumindest an bayerischen Schulen. Was es sehr wohl gibt, sind immer mehr Kinder und Jugendliche, die die reale Welt kaum noch kennen, weil sie zu gerne in die Tiefen von TV, Internet und facebook abtauchen. Nicht in pädagogische Methoden sollen Eltern eingreifen, sondern hier. Damit Kinder auf Bäume klettern und Schreiben lernen können.
Eine der ganz wichtigen Ursachen für die steigenden Rechtschreibprobleme kommt ein wenig zu kurz. Die Mittelschullehrerin legt den Finger allerdings in die Wunde: Es wird einfach zu wenig geübt, sprich geschrieben. Aufgrund der Methode „Lesen durch Schreiben“ lernen die Kinder zwangsläufig zuerst die Druckschrift. Die Befürchtung, dass sich durch das Schreiben nach Gehör falsche Schreibungen einprägen, trifft nicht zu, denn die Kinder schreiben gleiche Wörter immer wieder anders, eben so, wie sie sie gerade hören. Inzwischen sind die Lehrer lt. Lehrplan angehalten, die richtige Schreibung in freien Texten der Schüler zu korrigieren. Aber das kann ja nicht systematisch geschehen und bringt deshalb nicht viel. Nach der Druckschrift wird eine, meist vereinfachte Schreibschrift gelernt, aber zu wenig eingeübt. Rechtschreibung wird über Regeln gelernt, und da gibt es ein großes Problem: Es gibt viele Regeln, und zu jeder Regel gibt es viele Ausnahmen. Die Einteilung der Wörter in Mitsprechwörter, Nachdenkwörter und Merkwörter zeigt schon, dass es nicht so einfach ist, sich einfach ein paar Regeln zu merken. Bei meinen Schülern beobachte ich, dass diese erhebliche Mühe haben, den Stift richtig zu halten. Sie schreiben nicht flüssig, sondern gequält. Und dabei vergessen sie einfach, auch noch an Regeln und Merkwörter zu denken. Einer Untersuchung von Prof. Steinig zufolge ist die Anzahl der Fehler pro 100 Wörter von 7 im Jahr 1972 auf 17 im Jahr 2012 gestiegen. Inzwischen dürfte die Fehlerzahl noch höher sein, denn man musste das Diktat als Leistungsmessung abschaffen. Auf den zunehmenden Gebrauch von Handys als Ursache der Probleme zu verweisen, ist zu kurz gesprungen. Für Deutsch gibt es weniger Zeit, es wird zu wenig geübt. Rechtschreibübungen finden lt. Lehrplan nicht isoliert statt. Die Schreibtechnik wird sträflich vernachlässigt. Man macht den zweiten Schritt vor dem ersten. Die Lehrplangestalter sollten auf die erfahrene Mittelschullehrerin hören. der-lesekoch.de