Jochen Schick aus Unterleichtersbach ist überzeugt: Das Wildtier, das am 15. Dezember ein Kalb aus seiner Herde Hochlandrinder gerissen hat, war ein Wolf. Experten sind sich da (noch) nicht so sicher. Spuren hat der Wolf aber auch im Altlandkreis Brückenau einige hinterlassen.
Der Weideplatz von Schicks Rindern liegt am Rand des Neuwirtshauser Forstes auf einer Waldwiese, nur 100 Meter vom Bernbrunner Hof entfernt. Als der Unterleichtersbacher an jenem Dezember-Dienstag, gegen 15 Uhr, dort hinauffuhr, sah er das Kalb gleich. Es lag am Rand der Herde, tot. "Der Wolf hat es komplett zusammengerissen. Am Morgen hat das Tier noch gelebt", sagt Schick.
Joachim Urban, Beschäftigter des Forstbetriebes Bad Brückenau und als Ehrenamtlicher für das Landesamtes für Umwelt (LfU) tätig, sowie ein Jagdgenosse, nahmen den Kadaver in Augenschein. Urban nahm von dem verendeten Tier Proben. Ihre Auswertung soll zweifelsfrei ergeben, ob den Riss wirklich ein Wolf begangen hat.
Auftreten des wolfes in der Region bekannt
Für Jochen Schick kommt nichts anderes infrage. Das Reißbild weise eindeutig auf den Isegrim hin. Der Riss selbst überraschte Schick nicht wirklich. "Es ist bekannt, dass der Wolf in dieser Gegend gesichtet wurde."
Rainer Betz kann das bestätigen. Der Forstamtsrat betreute 40 Jahre lang das Staatsforsten-Revier im Neuwirtshauser Forst; er kennt dort jeden Baum. Betz hat Fotos von vor Ort, auch vom Riss, gesehen. Auch er glaubt: Das war ein Wolf. Zumal der pensionierte Förster ja im Mai vergangenen Jahres nach eigenen Angaben selbst einen gesehen hat - auf der Straße zum Nachbarort Schönderling. Darüber hinaus soll sich auch bei Modlos ein Wolf gezeigt haben.
Bisher keine Kenntnis
Daniel Zippert, Leiter des Forstbetriebs Hammelburg, besaß bisher keine Kenntnis von dem Riss am Neuwirtshauser Forst - obwohl seine Behörde für den Staatswald dort zuständig ist. Streng genommen fand der Riss außerhalb, auf einer Wiese, statt.
Zippert berichtet von mehreren Rissen im Forst, bei denen der Wolf als Täter aber anhand von Proben nicht fachmännisch habe nachgewiesen werden können. "Ein Forstunternehmer an der Heckmühle hat mal einen fotografiert." Bei Neuwirtshaus habe eine Wildkamera ein Exemplar abgelichtet. Das bisher letzte Foto eines Wolfs stammt laut Zippert vom 9. August 2019, aus dem Revier Schönderling. Das Tier bewegte sich in einem Umkreis von einem Kilometer um das sogenannte Willkommhaus.
Wolfsriss nicht ausdrücklich bestätigt
Joachim Urban, der eigentlich das Forstrevier Oberbach betreut, möchte einen Wolfsriss am Bernbrunn ausdrücklich nicht bestätigen. Nicht, bevor er nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist. Die Hürden dafür sind hoch. Bilder aus Fotofallen und Sichtungen hält Urban für schön und gut; aber den definitiven Nachweis erbringe nur eine Genanalyse.
Die von Schicks Kalbs-Kadaver genommenen Proben lässt der sich als "Netzwerker für große Beutegreifer" und "Spurensucher" bezeichnende Urban in der Gelnhausener Außenstelle des Senckenberg-Instituts labortechnisch untersuchen. "Ich bin mir nicht sicher, ob etwas dabei herauskommt." Das hänge davon ab, ob er mit den Proben auch wirklich Speichel erwischt habe, wie frisch die Spuren seien. Und ob wirklich ein Wolf zugebissen hat.
Untersuchungen in der Tierbeseitigungsanstalt und dem Labor
Die Reste des nassen, fast aufgefressenen Kalbes wurden in die Tierkörperbeseitigungsanstalt Bamberg gebracht - und dort von Tiermedizinern seziert. Ohne eindeutiges Ergebnis, sagt Joachim Urban. Auch der am Bernbrunn genommene Bodenabdruck des Kalbs sei unauffällig gewesen, habe zum Beispiel keine Spuren eines Kampfes offenbart. Auch typische Haarbüschel entdeckte Urban nicht. Trotzdem schickte er die Speichelprobe ein.
Sollte der Riss auf den Höhen von Unterleichtersbach tatsächlich von einem Wolf stammen, hätte Urban eine heiße Kandidatin. Über Kotproben und Speichel genetisch in der Region nachgewiesen ist seit etwa drei Jahren eine Wölfin. Sie wuchs in der Gegend südlich von Berlin auf, gilt aber in der Rhön und ihrem Vorland als "standorttreu". Genetische Spuren finden sich bei Unterelsbach, im nördlichen Salzforst bis hinauf nach Kilianshof, aber auch im Truppenübungsplatz Wildflecken. Bildmaterial existiert auch aus dem Bereich der Pilsterköpfe.
Großer Wanderungsradius
Da Wölfe einen großen Wanderungsradius besitzen, wäre es nicht verwunderlich, wenn die Brandenburger Zuwanderin auch im Neuwirtshauser Forst auftaucht. Allerdings ist ihr letzter genetischer Nachweis laut Urban fast schon ein Jahr her. Ihr Status der Standorttreue wackelt.
Der Forstmann bringt noch einen weiteren Kandidaten für den Riss am Bernbrunn ins Spiel. Einen Wolf, der aus den Schweizer Alpen stammt und im Hessischen genetisch nachgewiesen wurde. Er soll seine Kreise im unteren Sinntal ziehen. Allerdings verlor sich seine Spur laut Urban auch schon vor etwa einem Jahr. "Das ist typisch für Wölfe. Sie tauchen auf und verschwinden wieder."
Zwei oder drei Wölfe?
Ist der im August 2019 im Revier Schönderling fotografierte Wolf einer der beiden genannten? Oder gar ein dritter? Joachim Urban kann es nicht sicher sagen. "Vom Foto her kann man auf das Individuum nicht schließen, weil Wölfe keine Zeichnung haben." Er fände es aber reizvoll, fände eine Begegnung der beiden Tiere aus der Ost- und der Alpenpopulation statt.
Bisher, sagt Urban, erfolgte die Entschädigung nach Wolfsrissen eher großzügig. Die Akzeptanz für das unter Naturschutz stehende Tier solle gestärkt werden.
130 Euro Entschädigung
Rinderbesitzer Jochen Schick hat für sein zerlegtes Kalb 130 Euro in Aussicht gestellt bekommen. Erhalten hat er sie nach eigenen Angaben noch nicht. Aber er hat zwei Herdenschutzhunde angeschafft. Denn Schick ist überzeugt, dass der Wolf sich in der Region festsetzen wird.
Das glaubt auch Daniel Zippert. "Es ist nur eine Frage der Zeit, dass es öfter zu Wolfsbegegnungen kommt.Die Population wächst exponentiell." Rainer Betz hält die Lage noch für überschaubar. Solange die Wölfe nicht im Rudel auftreten. "Dann werden die Bauern auf die Barrikaden gehen."
Tierhalter sensibilisieren
Joachim Urban möchte Tierhalter vor allem in der Langen Rhön für Schutzmaßnahmen wie hohe, undurchdringliche Zäune und Herdenschutzhunde sensibilisieren. "Wenn die Wölfe sich etablieren, muss man mehr machen." Wenn ein Wolf merke, dass zum Beispiel ein Schaf gut schmecke und leicht erreichbar sei, gebe er das an seine Nachkommen weiter. Dazu müsse man verhindern.