Bad Brückenau
Erinnerungskultur
Bad Brückenau: Geteilte Meinungen im Stadtrat
Schüler des Franz-Miltenberger-Gymnasiums schlagen vor, Stolpersteine zu verlegen. Schon einmal diskutierte der Stadtrat das Thema - und stimmte dagegen.

Gedenken an die jüdische Opfer des Nationalsozialismus: In Bad Kissingen sind Stolpersteine zu finden. Der Stadtrat sprach sich anlässlich des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht dafür aus. Foto: Archiv/Ralf Ruppert
Es ist ein heißes Eisen, das die Schüler des Franz-Miltenberger-Gymnasiums anpacken. Im Rahmen ihrer Projektarbeit beschäftigen sich 14 Elftklässler mit der jüdischen Geschichte der Stadt. Ihre Idee: Auch in Bad Brückenau könnten Stolpersteine zur Erinnerung an diejenigen verlegt werden, die von den Nazis umgebracht wurden. "Wir wollen den Schülern die Möglichkeit geben, das Projekt erst einmal vorzustellen", blickt Michael Worschech von der Stadtverwaltung auf die Sitzung am Dienstag voraus.
Die Zahlen sind indes längst bekannt. Der verstorbene Pfarrer Ulrich Debler trug sie akribisch zusammen. 105 Juden lebten Ende 1935 in der Stadt. Viele zogen in größere Städte, wohl um unterzutauchen. Wer konnte, wanderte aus. Mehr als sieben Juden, die direkt aus der Stadt deportiert wurden, führt Depler an. Im April 1942 wurden die letzten Juden nach Würzburg deportiert.
Es ist nicht der erste Vorstoß im Stadtrat. Als vor neun Jahren allerorten des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht gedacht wurde, schlug die Fraktion FDP/Freie Bürger Stolpersteine vor. Der Antrag wurde mit 6:12 Stimmen abgelehnt. Dass die Schüler nun die Initiative ergreifen, freut Fraktionssprecherin Adelheid Zimmermann (FDP): "Ich finde das ganz positiv." Es gehe nicht um Schuldvermächtnis, sondern darum, aus der Geschichte zu lernen.
Birgit Poeck-Kleinhenz, Fraktionssprecherin der PWG, sieht das völlig anders. "Ich werde wieder dagegenstimmen", kündigt sie an. "Ältere Einheimische haben mir gesagt, dass sie nicht auf den Namen der Menschen herumtrampeln möchten, die sie noch gekannt haben." Eine ähnliche Argumentation vertritt Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden. "Ich glaube nicht, dass es ein bewusstes Treten ist", entgegnet Adelheid Zimmermann. "Für mich sind Stolpersteine Erinnerung und Vermächtnis aus unserer Geschichte."
Eine kritische Position vertrat damals auch das städtische Kulturbüro. Aus jüdischer Sicht seien Stolpersteine umstritten, sagt Roland Heinlein.* Dass der Initiator Gunter Demnig seine Kunst regelrecht inszeniere und viel Geld damit verdiene, ist ebenfalls zu hören.
Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, dessen Vorfahren aus Bad Brückenau stammen, würdigt Stolpersteine als "würdige und moderne Form des Gedenkens". Das Projekt sei inzwischen fester Bestandteil der Erinnerungskultur in Deutschland geworden, schreibt er auf Anfrage dieser Zeitung. "Stolpersteine begegnen uns im Alltag und machen so eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit möglich, ohne ein Museum oder eine Gedenkstätte aufsuchen zu müssen." Besonders freue ihn, dass es Jugendliche sind, die sich nun mit dem Thema auseinandersetzen. Eine Stellungnahme habe er an die Stadtverwaltung geschickt. Sie liegt den Stadträten bereits vor.
In anderen Städten, in denen Stolpersteine verlegt worden sind, lässt sich beobachten, dass sie mit der Zeit blind werden. Den Unterhalt würde die Stadt übernehmen, macht Michael Worschech klar. Dies sei nicht mit viel Aufwand verbunden. Einen Beschlussvorschlag für die Sitzung wird die Stadtverwaltung allerdings nicht vorlegen. Es sei völlig offen, ob und wie der Stadtrat am Dienstag entscheiden werde, sagt Worschech.
* Der Artikel wurde am 22. Mai 2017 geändert.
Einen Kommentar zum Thema finden Sie hier.
Was sind Stolpersteine?
Initiator Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig - ursprünglich wollte er an die Deportation von 1000 Sinti und Roma aus Köln erinnern. Das war Anfang der 1990er Jahre. Anschließend weitete sich diese Gedenkform auf die Opfer des Holocausts aus. Aber auch politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und die Opfer von Euthanasie schließt Demnig ausdrücklich ein.
Projekt Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln wird an das Schicksal der Menschen erinnert, die vom NS-Regime verfolgt und getötet wurden. Die Steine werden vor den Häusern, in denen die Menschen zuletzt (freiwillig) wohnten, verlegt - unabhängig davon, ob ihnen der Wohnraum gehörte oder sie nur Mieter waren.
Ausbreitung Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Aktuell sind fast 61.000 Steine in 1100 Orten in Europa verlegt worden (Stand April 2017). Eine weitere Form des Gedenkens - die Stolperschwellen - wurden 25 Mal angebracht.
Finanzierung Ein Stein kostet einschließlich seiner Verlegung 120 Euro. Finanziert werden Stolpersteine durch private Spenden. Die Steine werden vom Bildhauer Michael Friedrichs-Friedlaender (Berlin) in Handarbeit angefertigt.
Baubüro In der Regel unterstützt die Stadt den Künstler bei der Verlegung durch das Vorbereiten der Baustelle.
Eigentümer Der Künstler rät den Kommunen auf seiner Website, die Hauseigentümer und Bewohner zu informieren, wenn Stolpersteine verlegt werden. "Dies ist zwar nicht zwingend notwendig, da das Trottoir der Stadt gehört, es kann jedoch helfen, Streit zu vermeiden", schreibt Demnig.
Angehörige Manchmal gelingt es, Angehörige der Menschen ausfindig zu machen. So kam es durch die Verlegung von Stolpersteinen schon häufig zu Begegnungen, die sonst nicht passiert wären.
Daten liegen längst vor
Die Zahlen sind indes längst bekannt. Der verstorbene Pfarrer Ulrich Debler trug sie akribisch zusammen. 105 Juden lebten Ende 1935 in der Stadt. Viele zogen in größere Städte, wohl um unterzutauchen. Wer konnte, wanderte aus. Mehr als sieben Juden, die direkt aus der Stadt deportiert wurden, führt Depler an. Im April 1942 wurden die letzten Juden nach Würzburg deportiert.Es ist nicht der erste Vorstoß im Stadtrat. Als vor neun Jahren allerorten des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht gedacht wurde, schlug die Fraktion FDP/Freie Bürger Stolpersteine vor. Der Antrag wurde mit 6:12 Stimmen abgelehnt. Dass die Schüler nun die Initiative ergreifen, freut Fraktionssprecherin Adelheid Zimmermann (FDP): "Ich finde das ganz positiv." Es gehe nicht um Schuldvermächtnis, sondern darum, aus der Geschichte zu lernen.
Birgit Poeck-Kleinhenz, Fraktionssprecherin der PWG, sieht das völlig anders. "Ich werde wieder dagegenstimmen", kündigt sie an. "Ältere Einheimische haben mir gesagt, dass sie nicht auf den Namen der Menschen herumtrampeln möchten, die sie noch gekannt haben." Eine ähnliche Argumentation vertritt Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden. "Ich glaube nicht, dass es ein bewusstes Treten ist", entgegnet Adelheid Zimmermann. "Für mich sind Stolpersteine Erinnerung und Vermächtnis aus unserer Geschichte."
Gedenkform bei Juden umstritten
Eine kritische Position vertrat damals auch das städtische Kulturbüro. Aus jüdischer Sicht seien Stolpersteine umstritten, sagt Roland Heinlein.* Dass der Initiator Gunter Demnig seine Kunst regelrecht inszeniere und viel Geld damit verdiene, ist ebenfalls zu hören.Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, dessen Vorfahren aus Bad Brückenau stammen, würdigt Stolpersteine als "würdige und moderne Form des Gedenkens". Das Projekt sei inzwischen fester Bestandteil der Erinnerungskultur in Deutschland geworden, schreibt er auf Anfrage dieser Zeitung. "Stolpersteine begegnen uns im Alltag und machen so eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit möglich, ohne ein Museum oder eine Gedenkstätte aufsuchen zu müssen." Besonders freue ihn, dass es Jugendliche sind, die sich nun mit dem Thema auseinandersetzen. Eine Stellungnahme habe er an die Stadtverwaltung geschickt. Sie liegt den Stadträten bereits vor.
In anderen Städten, in denen Stolpersteine verlegt worden sind, lässt sich beobachten, dass sie mit der Zeit blind werden. Den Unterhalt würde die Stadt übernehmen, macht Michael Worschech klar. Dies sei nicht mit viel Aufwand verbunden. Einen Beschlussvorschlag für die Sitzung wird die Stadtverwaltung allerdings nicht vorlegen. Es sei völlig offen, ob und wie der Stadtrat am Dienstag entscheiden werde, sagt Worschech.
* Der Artikel wurde am 22. Mai 2017 geändert.
Einen Kommentar zum Thema finden Sie hier.
Was sind Stolpersteine?
Initiator Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig - ursprünglich wollte er an die Deportation von 1000 Sinti und Roma aus Köln erinnern. Das war Anfang der 1990er Jahre. Anschließend weitete sich diese Gedenkform auf die Opfer des Holocausts aus. Aber auch politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und die Opfer von Euthanasie schließt Demnig ausdrücklich ein.
Projekt Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln wird an das Schicksal der Menschen erinnert, die vom NS-Regime verfolgt und getötet wurden. Die Steine werden vor den Häusern, in denen die Menschen zuletzt (freiwillig) wohnten, verlegt - unabhängig davon, ob ihnen der Wohnraum gehörte oder sie nur Mieter waren.
Ausbreitung Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Aktuell sind fast 61.000 Steine in 1100 Orten in Europa verlegt worden (Stand April 2017). Eine weitere Form des Gedenkens - die Stolperschwellen - wurden 25 Mal angebracht.
Finanzierung Ein Stein kostet einschließlich seiner Verlegung 120 Euro. Finanziert werden Stolpersteine durch private Spenden. Die Steine werden vom Bildhauer Michael Friedrichs-Friedlaender (Berlin) in Handarbeit angefertigt.
Baubüro In der Regel unterstützt die Stadt den Künstler bei der Verlegung durch das Vorbereiten der Baustelle.
Eigentümer Der Künstler rät den Kommunen auf seiner Website, die Hauseigentümer und Bewohner zu informieren, wenn Stolpersteine verlegt werden. "Dies ist zwar nicht zwingend notwendig, da das Trottoir der Stadt gehört, es kann jedoch helfen, Streit zu vermeiden", schreibt Demnig.
Angehörige Manchmal gelingt es, Angehörige der Menschen ausfindig zu machen. So kam es durch die Verlegung von Stolpersteinen schon häufig zu Begegnungen, die sonst nicht passiert wären.