Brückenbauer zu den Menschen

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Seit dem Jahrtausendwechsel leben Martina und Gerd Kirchner in Bad Brückenau. Foto: Ulrike Müller
Seit dem Jahrtausendwechsel leben Martina und Gerd Kirchner in Bad Brückenau. Foto: Ulrike Müller

Am Reformationstag gedenken evangelische Christen des Revoluzzers Martin Luther. Auch Pfarrer Gerd Kirchner hat in der Friedenskirche manches umgekrempelt. Im Interview sprechen die Kirchners über die schwierigen Anfangsjahre in Bad Brückenau, die Bedeutung von Ritualen und warum sie ihn zur Therapie geschickt hat...

Es ist ein strahlender Herbsttag, als Martina und Gerd Kirchner es sich im Garten des Pfarrheims im Auerhahnweg gemütlich machen. Von hier reicht der Blick über die Stadt bis hinauf zum Steinbusch. Die Kirchners trinken Tee aus Tongeschirr aus der ökumenischen Bruderschaft Taizé, sie kommen ins Plaudern und plötzlich liegen sie auf dem Tisch, die ernsten und weniger ernsten Dinge des Lebens.

Pfarrer Kirchner, Sie sind bekannt für ihre unkonventionelle Art, Gottesdienst zu halten...
Gerd Kirchner: Bin ich das? Ich muss zugeben, manche meiner Kollegen schütteln den Kopf über das, was ich tue.

Als Sie mit ihrer Familie vor 13 Jahren hierher gekommen sind, war das sicher noch anders.
Er: Viele Leute sind es gewohnt, dass da vorne ein Pfarrer steht und ein Formular abliest. "Ich spende Euch Trost aus der Schrift..." Da werde ich kirre. Ich kann niemanden gleich gültig trauen oder beerdigen. Ich muss immer nach dem Individuellen suchen. Da haben es die Leute auch nicht einfach mit mir.
Sie: Die Gemeindestruktur ist hier auch ganz anders, als wir es von unserer vorigen Gemeinde gewohnt waren. Anfangs haben wir die Sorgen und Nöte der Leute nicht mitbekommen, wir haben fast nichts miteinander geteilt. Aber dafür ist eine Kirchengemeinde doch da!

Woran lag das?
Er: Etwa ein Drittel der evangelischen Christen der Stadt sind Übersiedler-Familien aus Kasachstan und Sibirien. Diese Menschen wurden im Stalinismus ja so stark unterdrückt, dass sie bis heute Vorbehalte haben, sich irgendwelchen Gruppen anzuschließen als den eigenen.
Sie: Aber auch sonst war es sehr schwierig. Es hat bestimmt fünf Jahre gedauert, bis wir Zugang zu den Leuten gefunden haben.

Wie hat sich das geändert?
Er: Ich habe die Brücke zu den Menschen über die Seelsorgearbeit gefunden. Wir machen ja auch Familienaufstellungen, da lernt man unheimlich viel über die Geschichte der Leute.

Familienaufstellungen? Was soll denn das sein?
Er: Das ist eine moderne Methode aus der Psychologie, die die Dynamik innerhalb einer Familie erfahrbar machen kann. Konkret heißt das, dass sich eine Gruppe von vielleicht zwölf Leuten einmal im Monat trifft. Vordergründig kommen die Teilnehmer, weil sie Grenzerfahrungen gemacht haben, also mit Lebenskrisen, Eheproblemen und solchen Dingen. Nach und nach stoßen wir auf die Lebensgeschichten, die hinter diesen Erfahrungen stecken. Ich habe damit angefangen, als ich in meiner ehemaligen Gemeinde massive Seelsorgefälle zu betreuen hatte.

Braucht man dafür eine bestimmte Ausbildung?
Er: Nicht direkt. Ich habe aber in den Jahren 2000 bis 2003 eine Therapieausbildung gemacht. Da lernt man, in die Untiefen der eigenen Seele zu schauen... Und ich kenne das auch aus eigener Erfahrung. Schließlich hat mich meine Frau vor vielen Jahren mal zur Therapie geschickt.

Und Sie sind hingegangen?
Er: Ich habe der Außenwahrnehmung meiner Frau geglaubt, das war mein Glück.

Aber zurück zu den Familienaufstellungen. Wie läuft das genau ab?
Sie: Indem man mit anderen über Dinge spricht, werden manche Zusammenhänge auf einmal klar, die man sonst gar nicht so wahrgenommen hätte.
Er: Das hat viel mit Emotionen zu tun. Über Familienschicksale werden die Urwerte des Menschen erfahrbar, also Achtung, Würde, Liebe. Das ist Gott.

Das ist Gott??
Er: Ich weiß ja gar nicht, wer Gott ist. Aber ich erkenne ihn im Lächeln eines Kindes oder eben in Gefühlen, die fließen.
Sie: Man lebt damit. Das ist eine Sicherheit, die vorhanden ist...
Er: ... und lebendig.

Viele Menschen finden durch Psychotherapie zu sich selbst. Dazu braucht man ja nicht unbedingt die Kirche.
Er: Aber die Kirche kann dabei helfen. Kirchliche Rituale zum Beispiel sind ein Gefäß dafür, dass der Mensch existenzielle Erfahrungen machen kann.
Sie: Rituale geben Sicherheit. Gerade für Kinder ist das ganz wichtig.
Er: So wie der Herbst eine Zeit des Dankes ist. Deshalb feiern wir Erntedank. Weihnachten ist ein Fest der Freude, manchmal aber auch der Trauer. Wenn es das erste Weihnachten ist, wo ein geliebter Mensch fehlt. Oder das letzte Weihnachten.

Was für eine Zeit ist es denn für die Kirchgemeinde, gerade nach dem Ende des Diakonievereins?
Er: Es bleibt bei uns eine Trauer übrig, ja.
Sie: Es ist aber auch eine Zeit des Wandels. Wir sind jetzt 13 Jahre hier. In dieser Zeit hat sich unheimlich viel gewandelt.

Zum Beispiel?
Sie: Das Gemeindeleben ist sehr vielfältig. Unheimlich viele Menschen helfen mit und arbeiten ganz treu an ihrem Platz. Bei uns wird Theater gespielt, wir haben einen Chor, den Strickkreis, den Familientreff La Ma ma und vieles anderes. Aber was das Wichtigste ist: Die Menschen sind miteinander unterwegs, sie wissen voneinander.
Er: Heute klatschen die Leute bei einer Taufe aus Begeisterung über das Leben. Das wäre früher undenkbar gewesen.

Das Gespräch führt Redakteurin Ulrike Müller.