Urteil gegen Polizist gefällt: Hätte er den Angriff in Aschaffenburg verhindern können?

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Prozessauftakt wegen Strafvereitelung gegen einen Polizisten
Der Angeklagte (l.) äußerte sich nicht persönlich zu den Vorwürfen.
Prozessauftakt wegen Strafvereitelung gegen einen Polizisten
Andreas Arnold/dpa

In Alzenau stand ein Polizist vor Gericht, weil er eine mögliche Körperverletzung nicht untersucht haben soll. Der damalige Angreifer tötete später zwei Menschen in Aschaffenburg.

Update vom 29.10.2025: Urteil gegen Polizist

Weil ein Polizist nach einer möglichen Straftat nicht gegen einen mutmaßlichen Messerstecher in Franken ermittelte, hat ihn das Amtsgericht Alzenau zu fünf Monaten Haft verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf drei Jahre festgelegt. Zudem muss er 3.000 Euro zugunsten einer Hilfsorganisation zahlen.

Der 29-Jährige habe sich der Strafvereitelung im Amt in einem minder schweren Fall schuldig gemacht, sagte Richter Torsten Kemmerer. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.

Der Angeklagte hatte als polizeilicher Sachbearbeiter kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, obwohl eine Frau im August 2024 in einer Flüchtlingsunterkunft in Alzenau (Landkreis Aschaffenburg) von ihrem Freund angegriffen worden sein soll. Der verdächtige Flüchtling soll fünf Monate später in Aschaffenburg zwei Menschen mit einem Messer getötet haben.

"Wir haben eine Ermittlung, die ist gleich null", sagte der Richter und warf dem bisher nicht vorbestraften Angeklagten Gleichgültigkeit und Faulheit vor. Ein Polizeibeamter habe eine Straftat aufzuklären, auch bei schwierigem Klientel. "Er hat halt nix gemacht, gar nix."

Anklage plädiert für Haftstrafe

Die Staatsanwaltschaft hatte für den angeklagten Polizisten eine Haftstrafe von eineinhalb Jahren verlangt. Der 29-Jährige habe gewusst, dass in Alzenau jemand verletzt worden sei und es Fotos gegeben habe: "Er wusste das", sagte Oberstaatsanwalt Christoph Gillot. Dennoch habe er nicht ermittelt. "Wir haben eine gefährliche Körperverletzung mit einem Messer."

"Wir wissen es wegen der Spurenlage (…), vom Video, und wir wissen es von den Angaben der Zeugen." Durch das Unterlassen des Sachbearbeiters, die Staatsanwaltschaft zu informieren, sei nichts in die Wege geleitet worden. Dies sei als vollendete Strafvereitelung im Amt zu werten.

Ob durch Ermittlungen gegen den Flüchtling die tödliche Messerattacke des psychisch kranken Afghanen in Aschaffenburg verhindert worden wäre, sei ungewiss, sagte Gillot. Das sei auch unerheblich für diesen Fall.

Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. Es sei nicht erwiesen, dass sein Mandant von einem Messer und den Verletzungen der Frau gewusst habe. Zudem sei eine gefährliche Körperverletzung für ihn nicht bewiesen.

Tote fünf Monate nach Vorfall von Alzenau

Der Verdächtige konnte nach der Attacke unbehelligt weiter in der Unterkunft leben. Am 22. Januar fuhr er nach Angaben von Ermittlern nach Aschaffenburg und tötete im Park Schöntal ein Kleinkind und einen Mann. Der Flüchtling soll Stimmen gehört haben, die in dazu bewegt haben sollen.

Der 28-Jährige ist nach Angaben eines Gutachters paranoid schizophren und war bei der Tat in Aschaffenburg wahrscheinlich schuldunfähig. Wegen Mordes und anderer Vorwürfe steht der geständige Mann derzeit vor dem Landgericht Aschaffenburg, das voraussichtlich am Donnerstag sein Urteil in dem sogenannten Sicherungsverfahren sprechen wird. Die Staatsanwaltschaft will den Flüchtling in einer psychiatrischen Einrichtung unterbringen lassen.

Motiv des Polizisten unklar

Warum der angeklagte Beamte im Fall Alzenau nicht ermittelte, konnte im Prozess nicht geklärt werden - der Mann äußerte sich dazu nicht. Allerdings wurde deutlich, dass es in der Polizeiinspektion damals Kommunikationsprobleme gab. So hatten sich die am Tatort eingesetzten vier Beamten nur unzureichend ausgetauscht. 

Dass ein Messer im Spiel gewesen sein soll, wollen sie nach eigener Aussage nicht gewusst haben. Nur einer der Polizisten registrierte die Verletzungen des Opfers und dokumentierte diese per Handy – eine ordentliche Vernehmung der Frau oder von Zeugen blieb aus.

Der Richter sprach von schlampiger Arbeit dieser vier Beamten. Während es zu einer Anklage gegen den 29-Jährigen kam, stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren gegen die drei anderen Kollegen ein.

Ob sich der Angeklagte nun einem Disziplinarverfahren stellen muss, ist unklar. Nach Angaben des Polizeipräsidiums Unterfranken werden bei Disziplinarverfahren mögliche Dienstpflichtverletzungen bewertet und gegebenenfalls sanktioniert. Bislang gab es keine Sanktionen für den Mann, er ist weiter im Dienst, wie er selbst vor Gericht angab. Liegt der Verdacht einer Straftat vor, wird laut Polizei die Einleitung eines Disziplinarverfahrens geprüft.

Originalmeldung vom 27.10.2025: Polizist vor Gericht - Strafvereitelung?

Von einem Messer wollen die am Tatort eingesetzten Polizisten nichts gewusst haben, Ermittlungen wegen einer möglichen Körperverletzung gibt es nicht - der Richter spricht von Schlamperei: Im Prozess um eine mutmaßliche Strafvereitelung im Amt durch einen Polizisten im fränkischen Alzenau gestaltet sich die Aufklärung der Vorfälle rund um eine mögliche Straftat des späteren Messerstechers von Aschaffenburg (28) schwierig. 

Für den Prozess vor dem Amtsgericht Alzenau (Landkreis Aschaffenburg) sind zwei Tage angesetzt. Am Dienstag könnte das Urteil gesprochen werden.

Schreie in Flüchtlingsunterkunft

Es ist die Nacht zum 30. August 2024. Die Polizei wird zu einer Flüchtlingsunterkunft in Alzenau gerufen, Bewohner wollen Schreie gehört haben. In dem Gebäude treffen die ersten beiden Beamten nach Darstellung der Staatsanwaltschaft auf den 28 Jahre alten Verdächtigen, der von Mitbewohnern fixiert wird. Der Afghane soll seine Freundin (45) in der Unterkunft gewürgt und angegriffen haben, vielleicht mit einem Messer, vielleicht auch nicht. Beide sind betrunken, die Frau wird laut Ermittlern nicht ernsthaft befragt.

Zwei weitere Polizisten treffen ein, einer macht Bilder von den Wunden der Frau. Der Mann - psychisch auffällig - kommt eine Nacht in Gewahrsam, kehrt aber am nächsten Tag wieder in die Unterkunft zurück. Ermittlungen werden nicht eingeleitet, eine mögliche Tatwaffe wird weder gesucht noch sichergestellt. 

"Ich habe das Messer nicht gesehen", sagt eine in der Unterkunft lebende Ukrainerin vor Gericht. Aber sie habe Schreie gehört und Verletzungen gesehen. Eine andere Migrantin meint, ein Messer gesehen zu haben, zudem Blutspuren an der 45-Jährigen. Die Erinnerungen sind mehr als ein Jahr später vage. Das mutmaßliche Opfer erzählt am ersten Prozesstag: "Mit einer Hand hat er mich gewürgt und in der anderen Hand hat er das Messer gehalten."

Fünf Monate später eine Attacke mit Todesopfern

Rund fünf Monate später soll derselbe Mann im Aschaffenburger Park Schöntal zwei Menschen mit einem Küchenmesser getötet haben - möglicherweise im Zustand der Schuldunfähigkeit. Das Sicherungsverfahren gegen den Beschuldigten könnte in dieser Woche vor dem Landgericht Aschaffenburg enden. Die Staatsanwaltschaft will den Mann in einem psychiatrischen Krankenhaus unterbringen lassen. 

Erst nach der bundesweit beachteten Bluttat geht eine Anzeige bei der Polizei wegen des Vorfalls in Alzenau ein. Die Staatsanwaltschaft Coburg ermittelt gegen vier damals eingesetzte Beamte, drei Verfahren wurden eingestellt. Der nun angeklagte 29-Jährige war damals Sachbearbeiter des Falls. Laut Staatsanwaltschaft hätte er erkennen müssen, dass eine gefährliche Körperverletzung vorliegen könnte – ermittelte jedoch nicht. Für den Ankläger ist das unverständlich und als Strafvereitelung im Amt zu werten. 

Strafvereitelung im Amt kann mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder in minder schweren Fällen mit Geldstrafe geahndet werden. Ob der spätere Angriff in Aschaffenburg durch frühere Ermittlungen hätte verhindert werden können, bleibt spekulativ - und zeitlich angesichts von fünf Monaten zwischen den beiden Attacken eher unwahrscheinlich. 

"Absolute Schlampigkeit"

Am ersten Verhandlungstag wird nach Ansicht von Richter Torsten Kemmerer unter anderem deutlich: "Mir erscheint vieles hier als eine absolute Schlampigkeit (…) und eine fehlende Kommunikation in der Dienstgruppe."

Wer wusste wann was? Wer hat sich in der Polizeiinspektion Alzenau nach der angeblichen Messerattacke überhaupt intensiv mit der Sache befasst? Wer hat wem was gesagt? Wer hat die Fotos der Verletzten gesehen? Fragen über Fragen, die sich den Prozessbeteiligten aber auch den Beobachtern stellen. 

Die drei Kollegen des Angeklagten haben nach eigener Aussage nicht tiefergehend miteinander über den Fall gesprochen und schon gar nicht verfolgt, ob der Sachbearbeiter Ermittlungen einleitet.

"Ich habe kein Messer gesehen"

Der Angeklagte sagt nichts zu den Vorwürfen. Der 29-Jährige lässt über seinen Verteidiger lediglich erklären: "Er hatte vor Ort keinen Kontakt mit dem Opfer. Er weiß auch nicht, ob unmittelbar am Tatgeschehen ein Messer vorhanden war."

Der damalige Streifenpartner des 29-Jährigen versichert, bei dem Einsatz kein Messer gesehen zu haben. "Ich habe keines gesehen und habe auch keine Äußerung diesbezüglich wahrgenommen", sagt der 33-Jährige. Mit der 45-Jährigen habe er nicht gesprochen, auch keine Verletzungen wahrgenommen. Ähnliches sagt der damalige Vorgesetzte des Angeklagten. 

Der Beamte allerdings, der die Wunde des Opfers fotografierte, will indes dem Angeklagten davon erzählt haben. "Ich habe ihm auf jeden Fall von den Verletzungen, die ich gesehen habe, berichtet."