Hermann Schneider hat am Mainfrankentheater in Würzburg Alban Bergs Oper "Wozzeck" inszeniert. Auch wenn sein Regieansatz verfehlt ist, sollte man sich dieses bannende Musiktheater nicht entgehen lassen.
Merkwürdiger Fall: Darf man einen Opernabend empfehlen, den man aus guten Gründen als gescheitert bezeichnen muss? Man darf. Denn es kann ebenso gute Gründe geben, die das Scheitern wieder aufheben. Die Neuinszenierung von Alban Bergs dreiaktiger Oper
"Wozzeck" in Würzburgist ein solcher Sonderfall. Die beeindruckenden sängerdarstellerischen und musikalischen Leistungen, die große ästhetische Geschlossenheit der Produktion zählen mehr als das ausgeklügelte Regiekonzept, das im Kern das Stück verfehlt.
Dass das Haus schon bei der Premiere am Samstag nicht ausverkauft war, beleuchtet einmal mehr die Angst des harmoniensüchtigen Publikums vor etwas neueren Tönen. Dabei wurde Alban Bergs "Wozzeck" - ein Meilenstein in der Operngeschichte - vor bald 88 Jahren uraufgeführt. Die Premiere des dieser Oper zugrunde liegenden Schauspielfragments "Woyzeck" von Georg Büchner (das wiederum auf einem authentischen Kriminal- und Justizfall basiert) liegt noch weiter zurück: Der Autor starb bekanntlich 1837, die Erstveröffentlichung des Dramentextes erfolgte in den 1870er Jahren, die Uraufführung fand vor hundert Jahren statt.
Der Regieansatz von Intendant Hermann Schneider, eine Oper aus ihrer Entstehungszeit heraus zu interpretieren, ist ein probates Mittel, das in vielen Fällen aufgeht. Die Handlung spielt im zeitlichen Niemandsland nach dem Ersten Weltkrieg, in einem bildstarken Einheitsraum (Bühne: Bernd Franke, Kostüme: Götz Lanzelot Fischer), den das Publikum des Mainfrankentheaters in unbeschädigter Form aus dem glücklich ausgehenden Soldatenstück "Minna von Barnhelm" vom Saisonbeginn her noch kennt.
Nivellierte Klassenunterschiede Die Titelfigur ist erklärtermaßen nicht der übliche Underdog, sondern eher ein beobachtender Intellektueller, der wie eine Mischung aus Ernst Jünger und Georg Trakl traumatische Erinnerungen ins ständig mitgeführte Tagebuch notiert. Wozzeck sieht mitnichten immer so verhetzt aus, wie der Hauptmann es behauptet. Und selbst wenn die Projektionen es suggerieren: Ob dieser Mann sein Rasiermesser zum Mordinstrument für seine Marie macht, bleibt fraglich.
"Ja, wenn ich ein Herr wär', und hätt' einen Hut und eine Uhr und ein Augenglas und könnt' vornehm reden, ich wollte schon tugendhaft sein", lässt Berg seinen Wozzeck sagen, als der Hauptmann ihm sein uneheliches Kind als unmoralisch vorhält. In Würzburg trägt Wozzeck eine Brille, hängt wohlerzogen seine Soldatenmütze am Kleiderhaken auf und hat vielleicht sogar eine Uhr am Handgelenk. Kurz: Bei dieser Interpretation fehlt der Figur die Fallhöhe - und der sozialkritische Sprengstoff fällt fast komplett unter den Tisch.
Wozzeck ist am ehesten normal Die Inszenierung zeigt zwar eine aus den Fugen geratene Welt, aber ausgerechnet Wozzeck ist der normalste unter den grell karikierten Männerfiguren - und gehört nicht unbedingt einer stark unterprivilegierten Klasse an. Was will uns Hermann Schneider damit sagen? Dass der Krieg selbst die klügeren Köpfe zu Mördern macht? Soll das die Botschaft des Stücks sein, dem er damit den Stachel nimmt? Und warum lässt er das Publikum selbst mit dieser Binse im Unklaren, wenn letztlich offen bleibt, ob der Mord an Marie nur in Franzens überhitztem Kopf stattgefunden hat?
Trotz dieser großen Einwände sei dieser "Wozzeck" jedem Opernfreund nachdrücklich und sogar zu mehrfachem Besuch empfohlen. Denn er erfüllt in seinen pausenlosen hundert Minuten Spieldauer das, was der Komponist wollte: Dass von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, keiner mehr einen Gedanken über die gegebene abstrakte Kunstfertigkeit und Komplexität der Musik verschwendet, sondern gebannt ist von dem, was szenisch und musikalisch in großer Spannung und Dichte abläuft.
Solisten und Musiker brillieren Drei Gastsänger bietet das Mainfrankentheater für den "Wozzeck" auf: Dem sehr sicher, geschmeidig, kultiviert singenden Dietrich Volle in der Titelrolle fehlte bei der Premiere nur eine kleine Portion an Durchschlagskraft, um donnernd gefeiert zu werden, Hans-Georg Priese als Tambourmajor und Matthias Grätzel setzten sich sängerdarstellerisch markant in Szene. Die als indisponiert angesagte Karen Leiber sang die hier krankenschwesterliche Marie wohl vorsichtiger als sonst, überzeugte aber ebenso wie der brillante Johan F. Kirsten als Doktor.
Auch die Solisten der kleineren Rollen und der von Markus Popp einstudierte Opernchor und der Kinderchor machen deutlich, wie wichtig es für ein kleineres Theater ist, sich solchen Herausforderungen wie Alban Bergs "Wozzeck" zu stellen. Dass das Philharmonische Orchester unter Dirigent Enrico Calesso hörbar gewachsen ist, zeigt gerade diese Produktion. Eine bravouröse Gesamtleistung, die das Publikum mit zahlreichem Besuch belohnen sollte - selbst wenn das große Aber für den inszenatorischen Grundgedanken bleibt.