Wassernixen als Inzest- und Missbrauchsopfer

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Reh-Repliken in rauen Mengen: Ensembleszene aus der Münchner "Rusalka" mit Kristine Opolais (vorne rechts) in der Titelrolle und dem Chor der Bayerischen Staatsoper ...
Günter Groissböck als Wassermann und Kristine Opolais als Rusalka
 
Kristine Opolais als Rusalka und Janina Baechle als Hexe
 
Ensembleszene mit Kristine Opolais als Rusalka und dem Chor der Bayerischen Staatsoper
 
Kristine Opolais als Rusalka
 
Günter Groissböck als Wassermann und Kristine Opolais als Rusalka
 
Kristine Opolais als Rusalka
 
Klaus Florian Vogt als Prinz und Nadia Krasteva als die fremde Fürstin
 
Klaus Florian Vogt als Prinz, Kristine Opolais als Rusalka und Evgeniya Sotnikova als 1. Waldnymphe
 

Der österreichische Regisseur Martin Kusej reißt in München die Dvorak-Oper "Rusalka" aus der beschaulichen Märchenecke. Das Wagnis gelingt - mit der sensationellen Sängerdarstellerin Kristine Opolais in der Titelrolle.

Nein, nie mehr kann ich die vermeintlich romantische Arie der Wassernixe Rusalka an den Mond unbeschwert hören! Ich werde stets die lettische Sopranistin Kristine Opolais vor Augen haben, die sich im feuchten Kellerverlies schließlich an eine Kugellampe klammert, als wäre das ihr letzter Hoffnungsschimmer. Und ich werde diese wunderbar fein gewebte, böhmische Musik mit jenem todwunden, todtraurigen Unterton verbinden, den diese sensationelle Sängerin mit ihrer Stimme und in beängstigend wahrhaftiger Bühnenpräsenz umsetzt.

Schon vor der Premiere sorgte diese "Rusalka" für Schlagzeilen: Tierschützer erhoben Widerspruch, weil ein totes Reh auf der Bühne enthäutet werden sollte. Es war, wie sich am Samstag im Nationaltheater schnell herausstellen sollte, das weiß Gott kleinere Problem. Denn was der österreichische Regisseur Martin Kusej erzählt, öffnet jedem Zuschauer, ob er will oder nicht, die Augen dafür, welche Verheerungen sexueller Missbrauch und Inzest an Leib und Seele der Opfer anrichten.

Es ist eine bittere, schwer zu ertragende Lektion, die die Neuinszenierung aus der dreiaktigen Märchenoper herausliest. Aber alles, was Kusej und sein Team zeigen, ist logisch und genau aus dem Stück heraus entwickelt - einer Variante der altbekannten Undine- und Meerjungfrau-Sagen (Libretto: Jaroslav Kvapil). Die verstörende szenische Neuinterpretation gibt der 1901 uraufgeführten, spätromantischen, sehr wagnerischen "Rusalka"-Musik von Antonin Dvorak eine vielleicht noch nie gehörte Tiefe.

Ein Märchen nur für Erwachsene
Das Abgründige, Böse, Unheimliche und Unheilvolle, das bekanntlich in allen Märchen steckt, stellt Martin Kusej mit glasklarem, schneidend scharfem Blick in den Mittelpunkt - was Teile des Premierenpublikums prompt mit heftigen Buhrufen quittierten. Dabei hätte es ja durchaus noch härter kommen können. Wenn der Wassermann - hier ein Wiedergänger der österreichischen Schandtäter Josef Fritzl und Wolfgang Priklopil - in Trainingshose und Hausmeisterkittel mit Aldi-Tüten in den unter Wasser gesetzten Keller steigt, entlastet das zunächst das groß- bürgerliche Opernpublikum.

Doch all das Schreckliche, das hier in peinigender Deutlichkeit gespiegelt wird, passiert bekanntlich nicht nur im sogenannten Prekariat. Sondern überall, in allen Gesellschaftsschichten. Wofür die Inszenierung eindrucksvolle Bilder liefert, deren Sinn sich vielleicht nicht jedem sofort erschließt. Aber wem die vielen enthäuteten Reh-Repliken, mit denen sich die Hochzeitsgesellschaft im Ballsaal blutig tanzt, zunächst nichts sagen, kann Antworten im ausgezeichneten Programmheft (Dramaturgie: Olaf A. Schmitt) finden - unter anderem im Beitrag einer französischen Familientherapeutin. "Es ist so", schreibt Martine Nisse über Inzestopfer, "als ob der Seele bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen würde."

Es passiert hier und heute
Die Inszenierung zeigt Opfer unterschiedlichen Alters, einige Täter und weibliche Mitwisser, die, wenn es drauf ankommt, rein gar nichts gewusst haben wollen. Selbst die Ausstattung - Fototapete mit Bergsee und Alpenpanorama, grau Gemustertes im Schloss und am Schluss kühles Anstaltsweiß, dazu Kostüme mit einem Schuss münchnerisch (Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Heidi Hackl) - sagt unmissverständlich: Das passiert hier und heute.

Mit dieser "Rusalka" trifft die Bayerische Staatsoper endlich wieder und schmerzhaft ins Herz der Gesellschaft. Die sorgfältig, spannend und musikbezogen inszenierte Produktion ist auch solistisch und musikalisch ein Glücksfall. Neben der Titelprotagonistin sind auch Klaus Florian Vogt als Prinz und Günther Groissböck als Wassermann überragend. Alle weiteren Solisten und Choristen und vor allem der junge Dirigent Tomas Hanus sorgen für eine Aufführung, die garantiert unter die Haut geht.

Das große Opernglück hatte bei der Premiere allerdings einen kleinen Stich: Warum gab es für Kartenkäufer keinen Warnhinweis, dass die Inszenierung keine vorweihnachtliche Märchenoper und für Kinder nicht geeignet ist? Hoffentlich war das alles für das festlich gekleidete Mädchen, das mir unter den Premierengästen auffiel, nicht zuviel.

Termine und Karten
Weitere Vorstellungen 26., 28. und 31.10. sowie 4.11. ; weitere sieben Aufführungen ab 22.5.2011. Karten gibt es im Vorverkauf unter Telefon 089/21851920.

Internet
www.bayerische-staatsoper.de