Das neue Buch der auf historische Romane spezialisierten Autorin Tanja Kinkel befasst sich mit einem Stoff der Zeitgeschichte: der Entwicklung einer Studentin zum Mitglied der Roten-Armee-Fraktion (RAF), ihrer Zeit nach der Entlassung aus der Haft und das Schicksal der Angehörigen von Terroristen-Opfern.
In ihrem soeben erschienenen Buch "Schlaf der Vernunft" widmet sich die auf historische Romane spezialisierte Autorin Tanja Kinkel (46) der Gegenwart: Die gebürtige Bambergerin erzählt die Geschichte Angelikas, deren Mutter Martina, eine verurteilte RAF-Terroristin, nach langer Haft entlassen wird. In Rückblenden schildert sie das Abgleiten der engagierten Studentin Martina in den Terror. Gleichzeitig taucht der Journalist Alex auf, dessen Vater, einst Personenschützer eines Politikers, bei einem Attentat der RAF umgebracht worden ist, und der traumatisierte Ex-Leibwächter Steffen.
FT: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, im Jahr 2015 einen Roman über die RAF zu veröffentlichen, die sich ja 1998 selbst aufgelöst hatte?Tanja Kinkel: Da führten mehrere Wege hin. Terrorismus ist kein Thema von gestern, sondern hat eine sehr traurige Aktualität. So erinnern mich die Protokolle aus dem NSU-Prozess durchaus daran. Außerdem war ich schon viele Jahre lang an dem Thema interessiert. In den 70er Jahren war Hans de With parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium und ein guter Freund meiner Eltern, die in Bamberg wohnten und wohnen. Auf einmal konnte er nicht einmal mehr zu uns zum Grillen kommen, ohne dass vorher Personenschützer vorbeischauten. So etwas ist für ein Kind schon verwunderlich. Dann habe ich natürlich schon damals Fahndungsplakate und Nachrichten mitgekriegt. In den 80er Jahren lasen wir in der Schule dann schon Bölls "Verlorene Ehre der Katharina Blum" und sahen Filme, die es zu dem Thema bereits gab. Als Studentin in München habe ich dann eine ehemalige Klassenkameradin von Andreas Baader kennen gelernt und auch im Rahmen meiner Tätigkeit beim deutschen PEN auch eine Menge Alt-68er. Auch meine Begegnung mit Klaus Kinkel - mit dem ich nicht verwandt bin - und seiner Initiative zur vorzeitigen Entlassung von RAF-Gefangenen (Anf. 1992, d. Red.) hielt das Interesse wach. Vor einigen Jahren dann las ich das erschütternde Buch von Corinna Ponto und Julia Albrecht ("Patentöchter" 2011, d. Red.). Der Fokus auf die Familien von Tätern und Opfern löste auch etwas in mir aus. Das alles hat mich dazu gebracht, eine Geschichte erzählen zu wollen über den deutschen Herbst (1977, d. Red.) und seine Nachwirkungen durch die Familien sowohl der Täter als auch der Opfer. Ich wollte mit dieser Geschichte mehrere Dinge tun. Einmal die immer noch offenen Wunden zeigen. Deswegen ist Angelika (die Tochter der entlassenen Terroristin, d. Red.) nicht die einzige Perspektive des Buches, sondern Alex, der seinen Vater durch das Attentat verloren hat. Denn bei den fiktiven Darstellungen des RAF-Komplexes finde ich, dass bei den allermeisten die Opfer nur am Rande auftauchen. Außerdem frage ich mich angesichts des gegenwärtigen Terrorismus in verschiedenen Ausprägungen: Wie radikalisiert sich jemand? Ich wollte Martina (die Ex-Terroristin) als menschliches Wesen schildern, ohne sie zu entschuldigen. Es ist ja nicht so, dass sie an einem Tag als harmlose Bürgerin weggeht und am andern mit der Knarre in der Hand wieder auftaucht, sondern ich wollte es nachvollziehbar machen, ohne es zu entschuldigen, wie sich jemand von einer idealistischen Studentin bis zu einer Mörderin hin entwickeln kann.
Sie haben reale Geschehnisse verarbeitet, z.B. die Schleyer-Entführung mit drei toten Begleitern, den Buback-Sohn, der heute immer noch nach dem Mörder seines Vaters sucht, eine literarische Patchwork-Technik.Absolut. Ich wollte es nicht im Eins-zu-eins-Verhältnis machen, weil mir das Leid der Opfer sehr wichtig ist. Ich habe Steine verschiedener Mosaiken genommen und zu einem neuen zusammengesetzt. Dabei sind die Steine nicht neu, aber es sind verschiedene Steine von verschiedenen Bildern.
Welche Quellen haben Sie zur Recherche benutzt?Als Einstieg natürlich alle schriftlichen, die jedem zugänglich sind. Ich habe mich durch diverse Memoiren, Veröffentlichungen gelesen, Zeitungsarchive besucht und auch Tondokumente z.B. aus dem Stammheim-Prozess gehört. Es gibt auch sehr gute Fernsehdokumentationen. Dann hatte ich auch die Möglichkeit der persönlichen Befragung. Ich kenne einige Mitglieder der Sympathisantenszene. Mit einem Terroristen habe ich nicht gesprochen, denn ich glaube, das hätte mich zu sehr für oder gegen beeinflusst. Ich wollte die Person nicht identifizierbar machen. Und ich hatte durch den zentralen Zeitzeugen Klaus Kinkel Zugang zu Gesprächsprotokollen von Verhandlungen mit inhaftierten Terroristen. Diese Protokolle aus den 80ern sind von Leuten, die noch nicht wussten, was aus ihnen wird. Die Siebziger liegen gerade erst zurück, das gibt denen auch eine Unmittelbarkeit, eine Möglichkeit, sich hineinzufühlen in die Mentalität der Protagonisten.
Hatten Sie auch Kontakte zu Kindern von Terroristen oder Opfern?Nein, die lehnen das auch ab.
Worauf kam es Ihnen in Ihrem Buch dann besonders an?Ich versuche darin eine komplexe Geschichte komplex zu erzählen. Ob mir das gelungen ist, können nur die Leser entscheiden. Ich versuche auch eine unmittelbare Zeitgeschicht zu erzählen, die durchaus noch in unsere Gegenwart hineinreicht, wobei historische Romane natürlich immer auch die Gegenwart kommentieren.
Hat Sie die Geschichte persönlich berührt?O ja, natürlich. Wenn die Person, die man liebt und der man vertraut, gemordet hat und auf einmal nicht mehr da ist. Ein Verbrechen und ein Verlassenwerden, was kein Verbrechen ist, sondern ein emotionaler Schlag. Ein Schlag auch für die Angehörigen der Opfer. Damals gab es ja überhaupt keine Opferbetreuung. Die "normalen" Verbrecher sind nicht ikonisiert und hinterher immer der Öffentlichkeit vor Augen geführt worden. Corinna Ponto schrieb: Es gibt vielleicht Ex-Täter, aber Ex-Opfer kann man nicht finden. Oder wie es für ihre Mutter war, mit dem Bewusstsein leben zu müssen, dass sie die Mörder ihres Mannes täglich auf der Straße treffen könnte.
Was ja ins Buch eingeflossen ist. Genau. Frau Ponto ist übrigens deswegen nach New York gezogen.
Bezieht sich der Titel "Schlaf der Vernunft" auf Goya?Ja, auf die Grafik "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Die RAF ist ja nicht aus dem blanken Nichts entstanden, sondern vor dem Hintergrund der Situation in den 60ern, dem tiefen Misstrauen gegenüber der Generation vorher und dem nicht verarbeiteten Nationalsozialismus.
Ulrike Meinhof hat einmal geschrieben, "gegen Napalmbomben helfen keine Filme über verbrannte Kinder". Können Sie den Schritt Meinhofs vom Journalismus zum Terrorismus nachvollziehen? Ich kann nachvollziehen, wie sie in diese emotionale Schiene gekommen ist. Es gab auch andere Proteste in der Zeit, aber sie hat den berühmt-berüchtigten Satz geäußert, dass Polizisten Schweine sind, auf die geschossen werden darf, und die Erklärung des Kriegszustands. Ich sehe das durchaus vor dem Hintergrund der Zeit, so hat etwa der Tod von Benno Ohnesorg einen Teil der Studentenbewegung radikalisiert. Deswegen war auch der Tod von Holger Meins, das Verhungern in einem Gefängnis, für die zweite Generation der RAF ein Rekrutierungselement. Sympathisanten waren fest davon überzeugt, jetzt kommt der nächste faschistische Staat. Aber in dem Roman versuche ich, die Menschlichkeit aller Beteiligten zu zeigen. Dadurch, dass sich die RAF jeder Art von Kritik entzogen hat, kam dieser Echokammer-Effekt. Das macht jeden Fanatismus aus: dass man die Möglichkeit des Irrtums nicht mehr in Erwägung zieht. Es gab genügend politisch und intellektuell Tätige in dieser Zeit, die den Grenzstrich bei der Gewalt gezogen haben, als die Attentate blutiger wurden, vor allem auch nach der "Landshut"-Entführung. Denn darin saß "das Volk". Und dann zu sagen, man spreche für das Volk, hat auch bei den radikaleren politischen Strömungen kaum noch gewirkt.
Nach dem deutschen Herbst war die RAF in der Linken doch im Grunde erledigt. Das sehen die Einsichtigen der RAF auch, dass sie völlig abgedriftet sind von den politischen Gruppen in dieser Zeit, zu den neuen politischen Bewegungen. Das ist der große Unterschied etwa zur IRA, die auch einen politischen Arm hatte.
Haben Sie auch die ungeheure Hysterie jener Zeit in Ihrem Buch geschildert?Ich kann mich noch sehr gut erinnern z.B. an die Fahndungsplakate und das allmähliche Durchstreichen der Köpfe. Auch PEN-Mitglieder haben mir erzählt von Zusammenstößen mit der Polizei und wie sie von ihr behandelt wurden.
Ich entsinne mich sehr gut an die sogenannte Sympathisantenhatz gerade auch im deutschen Herbst 1977, eine Generalabrechnung der Konservativen mit der Linken. Alles, was nur vage links war, war Terroristenunterstützung.
Ist es nicht eine Gefahr, den Terror zu individualisieren, zu pathologisieren, ihn auf individuelle psychische Defekte zu reduzieren?Ja und nein. Man spricht immer über Individuen. Selbst beim historischen Roman gibt es den Versuch zu entpersonalisieren. Aber wir neigen nun einmal dazu, Geschichten von Einzelnen zu erzählen. Aber man kann sie durchaus als Einzelgeschichte erzählen und darauf hinweisen, dass sie nicht aus einem blanken Nichts kommt. Baader wäre wohl in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit kriminell geworden. Das heißt nicht, dass die RAF sich ohne Baader nicht entwickelt hätte, im Gegenteil.
Es ging ja nicht nur um Vietnam und den Nationalsozialismus, sondern um den Kapitalismus. Die Linke jener Zeit wollte ein grundlegend anderes System. Das ging zum Teil in die absolute Selbstgerechtigkeit, was mich beim Quellenstudium immer wieder schockiert. Wenn Gudrun Ensslin zum Beispiel sagt, das ist unser Auschwitz oder Belsen, ist das arrogant und zynisch ...
Und falsch. Und falsch. Das zeigt mir, dass die nie ein KZ besucht haben können.
Können Sie sich in die Gefühlswelt der Aktivisten der 70er Jahre versetzen? Sie haben ja einen ähnlichen sozialen Hintergrund. Es ist meine Aufgabe als Autorin, mich so weit einzufühlen, dass ich sie glaubwürdig schildern kann. Die Frage, was hätte ich getan, habe ich mir natürlich gestellt. Die 70er sind durchaus noch ein Teil der eigenen Lebenswelt, nur in der falschen Altersstufe. Ich hätte wahrscheinlich auch demonstriert, beim durchschnittlichen Wissensstand damaliger Zeitungsleser hätte ich vielleicht sogar geglaubt, dass die Selbstmorde von Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim Morde gewesen sein könnten. Das nenne ich Echokammer-Effekt. Wenn man ausschließlich mit Leuten zusammen ist, die einen bestärken und noch weiter hochdrehen - es ist sehr schwer zu sagen, nein, ich hätte auf keinen Fall. Selbst wenn ich glaube sagen zu können, ich würde niemals hinter Mord stehen. Das ist eben alles aus der Retrospektive gesagt, und wenn man sich anschaut, wie viele Menschen gerade in der Frühphase bereit waren, die RAF zu unterstützen ... Die Gruppendynamik muss etwas ungeheuer Starkes sein, das Mitgerissensein. Ich neigte immer ehr dazu, eine Einzelgängerin zu sein. Ob das damals auch so gewesen wäre? Vielleicht, möglicherweise. Man weiß es nicht.
Glauben Sie an die Möglichkeit der Versöhnung?An die Möglichkeit sicher, ob es tatsächlich passieren kann, ist etwas anderes. Man sollte niemals aufhören an die Möglichkeit der Reformierung zu glauben. Das ist vielleicht die Optimistin in mir. Es war auch sehr mutig von Herrn Kinkel damals, den Versöhnungs-Vorschlag zu machen.
Sind die heutigen Terroristen, Islamisten, Rechtsterroristen, mit denen der RAF zu vergleichen?Nicht eins zu eins. Aber einige der psychologischen und sozialen Mechanismen sind verwandt: das Gefühl, vom Staat keine Antworten zu bekommen, die Rekrutierung, indem man auf Missstände hinweist ...
... und wahllos mordet ...Bei der RAF war es zielgerichtet, stimmt, aber in der Spätphase wurde es mehr zu einer einzigen Selbstrechtfertigung. Eine Verwandtschaft sehe ich in dem Gefühl, Macht über Menschenleben zu haben, wenn Sie zum Beispiel Berichte lesen über die erste Ausbildungsphase der RAF bei den Palästinensern, zum Teil Material für eine schwarze Komödie. Der Moment, jemanden umzubringen, ist auf einmal da, weil auf einmal die Möglichkeit da ist, Macht über Leben und Tod zu haben. Das ist vielleicht auch bei jungen Leuten da, die jetzt nach Syrien reisen, die in Deutschland vielleicht als Arbeitslose herumsitzen und ein alltägliches Leben führen. Und dann eine Situation, wo er sich als Minigott fühlen kann.
Schwarze Komödie ist ja auch diese bizarre Nebengeschichte von den zehn Aussteigern, die in die DDR gehen. Da haben sie einige immer noch junge Leute, die gegen bürgerliche Verhältnisse rebelliert haben, und sie gehen in den autoritärsten deutschen Staat außerhalb des Nationalsozialismus, den es je gegeben hat. Für diese Leute war es offenbar möglich, nach ihren Taten wieder in eine normale Existenz zurückzukehren. So wie die NS-Täter, die nach dem Krieg die banalsten Leben führten.Nazis und RAF möchte ich nicht gleichsetzen. Nazis hatten noch viel mehr Leben auf dem Gewissen und konnten sich doch wieder integrieren. Wir glauben immer, dass ein Mörder irgendwann à la Macbeth im blutigen Nihilismus und Tod enden muss. Im klassischen Drama ist es nicht vorgesehen, dass man dann zurückgeht und Zahnarzt wird.
Halten Sie eine neue RAF für möglich?Nicht hier und heute, aber in zehn, zwanzig Jahren möglicherweise, auch weil das Pendel gegenwärtig so weit nach rechts ausschlägt.