Keine Chance für Herdenimmunität: Corona-Experte schließt weiteren Lockdown in Deutschland nicht aus

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Kommt im Herbst ein neuer Lockdown? Corona-Experte Thorsten Lehr hält das nicht für unwahrscheinlich.
Coronavirus
Sven Hoppe / dpa (Symbolbild)
Thorsten Lehr zu Corona-Entwicklung
Thorsten Lehr, Saarbrücker Pharmazie-Professor, betreibt zusammen mit anderen Forschern ein Covid-19-Simulationsprojekt.
Thorsten Lehr zu Corona-Entwicklung
Iris Maria Maurer/dpa

Die Corona-Lage bleibt trotz niedriger Inzidenz ernst. Corona-Experte Thorsten Lehr sieht keine Chance, in Deutschland eine Herdenimmunität zu erreichen und schließt auch einen erneuten Lockdown nicht mehr aus.

Die Corona-Lage könne sich im Herbst wieder zuspitzen. Das ist die Meinung verschiedener Experten. Das exponentielle Wachstum sei wieder voll im Gange, sagt der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr. Kommt es zu einem erneuten Lockdown? Und warum stehen die Chancen schlecht, eine Herdenimmunität zu erreichen?

Zu wenig Impfungen und zu wenig Impfbereitschaft lassen den Experten zu der Einschätzung kommen, dass es keine Herdenimmunität geben werde. "Ich glaube nicht, dass sie erreichbar ist", sagte der Experte für Corona-Prognosen der Deutschen Presse-Agentur in Saarbrücken. Für eine Herdenimmunität und somit eine erfolgreiche Eindämmung der Pandemie müssten 85 Prozent der Deutschen geimpft oder genesen - also immun - sein. Stattdessen sieht Lehr eine neue Welle auf Deutschland zurollen. "Das exponentielle Wachstum ist voll im Gange. Und die Zahlen werden jetzt weiter steigen", sagte er nach seinen Berechnungen. Auch Virologe Hendrick Streeck äußerte sich vor kurzem zum Thema Herdenimmunität. Für ihn sei diese aufgrund der Impfstoffe ebenfalls nicht erreichbar

Verzehnfachung der Inzidenz im Herbst

Der Corona-Experte hält demnach eine Inzidenz von 150 im September für realistisch. Eine Verzehnfachung des aktuellen Inzidenzwertes müsse man seiner Meinung nach als neue Welle bezeichnen. Damit liegt die Prognose Lehrs zwar weit von dem Wert von 800 entfernt, den Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zuletzt ins Spiel gebracht hat, dennoch schließt Lehr einen erneuten Lockdown inzwischen nicht mehr aus. 

Lehr sagte im Gespräch mit der dpa, er habe bisher geglaubt, dass Deutschland ohne Lockdown durch die vierte Welle komme. "Ich bin mir inzwischen nicht sicher, ob wir nicht irgendwelche Maßnahmen brauchen." Es hänge auch sehr viel von der Politik ab. "Es ist Bundestagswahl im September. Ich glaube, die Bundestagswahl wird mit unschönen Inzidenzen in Kombination kommen."

Lehr, der zusammen mit anderen Forschern ein Covid-19-Simulationsprojekt betreibt, ist sich sicher, dass mehr Impfungen das Wachstum bremsen könnten. Allerdings gehe die Zahl derzeit "massiv zurück" - vor allem bei den Erstimpfungen. In Deutschland ist aktuell rund die Hälfte der Bevölkerung vollständig geimpft.

90 Prozent der Corona-Fälle durch Delta-Variante

Die ansteckendere Delta-Variante mache insgesamt fast 90 Prozent der Fälle aus. Lehr sagte, er sehe bei steigender Inzidenz eine "relativ große Gefahr, dass sich Durchbruchvarianten entwickeln könnten". Deshalb hält er den niederschwelligen Zugang zu Impfangeboten für extrem wichtig. "Der Berg muss auch mal zum Propheten kommen", wird Lehr von der dpa zitiert. Aber auch ganze Gruppen, die bisher ungeimpft sind, müssten mehr Beachtung finden. Lehr spricht konkret von jungen Menschen zwischen 12 und 15 Jahren. Zwischen 60 und 70 Prozent aller neuen Infektionen betreffen laut Lehr im Moment die 15- bis 35-Jährigen.

Doch auch wenn das Impftempo jetzt wieder Fahrt aufnähme, würde das wegen des zeitlichen Verzugs - also bis die Impfungen voll wirkten - derzeit nicht stark weiterhelfen. "Deshalb sollten wir vor allem zusehen, dass wir nicht sämtliche Maßnahmen lockern", sagte der Experte. Man sollte Grundregeln und die Maskenpflicht beibehalten - und auf keinen Fall wie in Großbritannien alle Maßnahmen über Bord werden.

"Die Krankenhausbelegungen sind dort bereits dramatisch gestiegen. Es wird da noch drastisch werden."

Mehr Todesopfer unter jungen Corona-Patienten

In Deutschland rechnet Lehr ebenfalls mit einem erneuten Anstieg von Covid-Patienten in den Krankenhäusern. "Wir sehen das schon in manchen Bundesländern." Es gebe zwar eine Verschiebung zu Patienten, "die nicht ganz so schnell sterben", aber es bleibe dabei, dass sie wahrscheinlich einen schweren Verlauf haben werden. Zudem prognostiziert Lehr auch unter den jüngeren Patienten mehr Todesopfer.

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Es gehe nicht darum, Panik zu verbreiten, betonte der Professor im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. "Es geht uns darum, aufzurütteln und aufzuklären." Denn es liege in der Verantwortung eines jeden Einzelnen. "Das ist ja keine Sintflut, die über uns kommt und an der wir nichts ändern können. Wir haben selber in der Hand, was passiert. Deswegen müssen wir schauen, dass wir diesen Sommer nicht wieder verschlafen wie den letzten Sommer."

Während in den vergangenen Wochen viel über die Aussagekraft der 7-Tage-Inzidenz diskutiert wurde, hält Lehr an dem Wert fest, um die Corona-Lage zu bewerten. Sie zeige das Infektionsgeschehen und die Viruslast in der Bevölkerung. Der Faktor der Hospitalisierung trete zeitverzögert zu den Fällen auf.

 

red/mit dpa

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