In der "Orpheus"-Hölle hockt der "Führer"

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Pluto (Tilman Lichdi, links) findet seinen vergessenstranksüchtigen Kammerdiener Styx (Richard Kindley) im 3. Bild in den Toiletten der Tiefgarage wieder. Fotos: Ludwig Olah
Pluto (Tilman Lichdi, links) findet seinen vergessenstranksüchtigen Kammerdiener Styx (Richard Kindley) im 3. Bild in den Toiletten der Tiefgarage wieder. Fotos: Ludwig Olah
v.l. Leah Gordon (Eurydike), Tilman Lichdi (Aristeus), Martin Platz (Orpheus), Ntombizodumo Mahlaba (Arbeitsvermittlerin) und Statisterie
v.l. Leah Gordon (Eurydike), Tilman Lichdi (Aristeus), Martin Platz (Orpheus), Ntombizodumo Mahlaba (Arbeitsvermittlerin) und Statisterie
 
Leah Gordon (Eurydike), Michael Dudek (Bacchus), Ensemble, Opernchor und Statisterie
Leah Gordon (Eurydike), Michael Dudek (Bacchus), Ensemble, Opernchor und Statisterie
 
Richard Kindley (John Styx) und Leah Gordon (Eurydike)
Richard Kindley (John Styx) und Leah Gordon (Eurydike)
 
Martin Platz (Orpheus), Leah Gordon (Eurydike) und Statisterie
Martin Platz (Orpheus), Leah Gordon (Eurydike) und Statisterie
 

Laura Scozzi gelingt am Opernhaus Nürnberg eine furiose Version von Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt". Die aberwitzige Mythentravestie spielt hier in einem Hochhaus.

Mal ehrlich: Können Sie sich vorstellen, dass in einer Operette Stalin, Osama Bin Laden, Gaddafi und Adolf Hitler auftreten - und Sie lachen herzlich darüber? Ich gebe zu, auch ich hätte Bedenken gehabt. Aber die aus Italien stammende, in Frankreich lebende und mit britischem Humor gesegnete Regisseurin Laura Scozzi hat mich eines Besseren belehrt, mit ihrer überwiegend furiosen Inszenierung von Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt".

Wobei einschränkend gleich berichtet sei, dass es bei der Premiere im Nürnberger Opernhaus am Samstag auch erbitterte Buhrufe für die zweifellos unerschrockenen Szeniker gab.
Was aber weniger auf die unerwartete Ansammlung von Ex-Diktatoren und Massenmördern zurückzuführen ist, sondern mehr auf die für nicht wenige Zuschauer gewöhnungsbedürftige Darstellung der Götter, die sich hier in einem Olymp anöden, der sichtlich einem heutigen Alters- und Pflegeheim gleicht.

Die Götter sind ein Pflegefall

So viele unterschiedliche Gehhilfen, Rollstühle und Infusionsgeräte schlagen bei einem Publikum, das vom Durchschnittsalter her derlei Gebresten eher nahe denn fern steht, mitunter empfindlich auf die Geschmacksnerven. Man möchte sich doch bitteschön und gerne auch auf Teufel komm raus amüsieren, aber um Gottes willen nicht auf eigene Kosten! Dabei geht es bei Offenbachs erster abendfüllenden Opéra-bouffon um nichts anderes.

Man lacht hier nicht nur über die Umwertung aller bildungsbürgerlichen Werte, über die Demontage von Göttervater Jupiter und damit aller Machthaber schlechthin, sondern letztlich über die eigenen Defizite. Natürlich sieht keiner mehr Napoleon III. im notorisch ehebrechenden Götterchef. Die Akteure der Dreischichtenwelt mit Erde, Himmel und Hölle in dieser 1858 uraufgeführten Mythentravestie sind deshalb unverhüllt heutig, gestrig und vorgestrig, scheinen ebenso TV-Seifenopern entsprungen wie Filmklassikern à la "Tanz der Vampire".

Ein Schäferhund als Zerberus

Schon der Aufgalopp gerät großartig. Der Querschnittsblick in Parterre und 1. Stock eines Hochhauses (konsequente Bühne: Juliette Blondelle) verdeutlicht auf Anhieb, dass und wie der mittelmäßige Geiger Orpheus und die in Pink schwelgende Friseuse Eurydike (treffsichere Kostüme: Jean-Jacques Delmotte) sich auseinander gelebt haben. Ein witziger Seitensprung-Quicky weist voraus auf noch kommende Orgien, zur Zwischenmusik hingegen wird spielerisch die Vorgeschichte des gescheiterten Paares illustriert.

Wenn Pluto, der Herr der Unterwelt, zuerst als Schäfer Aristeus in Erscheinung tritt, ist das ein Kabinettstück: erstens wegen Schäferhund Bongo, seinem Zerberus, zweitens, weil er im chic gestylten Sozialamt mit seinem betörenden Gesang der Arbeitsvermittlerin so erfolgreich viel Geld abtrotzt, dass man sich glatt im Paradies wähnt. Oben ist der Himmel blau, aber voller Flugzeuge (Video: Stéphane Broc). Deren Lärm stört allerdings die schwerhörigen Götter kaum, die auf dem Dach der bald frei werdenden "attraktiven Immobilie" campieren, die diversen anderen Religionsoberhäuptern feilgeboten wird.

Promiauftrieb in der Unterwelt

Die Unterwelt ist in der Tiefgarage situiert, in der als erster Plutos Kammerdiener John Styx auf den frisch eingegangenen Sarg Eurydikes trifft - ein zahnlos gewordener, aus guten Gründen ständig Lethewasser trinkender "Führer" in Hausschuhen, den Richard Kindley so delikat verkörpert, dass selbst die leider ausgeleierte Stimme passt. Bei Plutos Party für die Götter sind selbstredend jede Menge Promis dabei, angefangen bei Jackie Kennedy und der Monroe, mit popmusikalischen Unsterblichen von Michael Jackson bis Amy Winehouse.

Mehr darf nicht verraten werden. Außer dass Offenbach auch gut gerockt werden kann. Sängerdarstellerisch am souveränsten führt das Tilman Lichdi als tenoraler Pluto vor, gefolgt von Martin Platz als Orpheus und Leah Gordons Eurydike. Unter den weiteren Mitwirkenden sind Martin Berners auch flugtauglicher Jupiter und Michaela Maria Meyers sängerisch durchschlagender Cupido hervorzuheben.

Ganz wie es im Handbuch steht

Chor, Bewegungsensemble und Statisten spielen ebenfalls tragende Rollen, natürlich auch beim berühmten Höllen-Cancan, der nicht nur in einschlägigen Etablissements, sondern längst auch in Stadien Einzug gehalten hat. Dass Dirigent Gábor Káli bei der Premiere diesem wilden und zuweilen auch klamottigen Haufen auf der Bühne, im Graben und im Auditorium nicht immer unter Kontrolle halten konnte, war nicht zu überhören.

Macht aber nichts. Denn das Ensemble wird mit den kommenden Aufführungen noch sicherer werden, auch in den von Dialogtexten der Regisseurin, die eigens ins Deutsche übersetzt wurden. Apropos Text- und Werktreue: Allen Zweiflern an dieser von Einfällen sprühenden, nur an wenigen Stellen etwas durchhängenden Interpretation sei die Lektüre der "Orpheus"-Inhaltsangabe von Volker Klotz anempfohlen. Laura Scozzi hat verblüffend frei und doch genau das bebildert, was der Operettenguru in seinem unverzichtbaren Handbuch zu diesem "unerhörten Kunstwerk" schreibt. Parfait!