Der Sozialwissenschaftler Fritz Reheis wirbt in Büchern,Vorträgen und Publikationen für "Entschleunigung" und "Zeitwohlstand". Er möchte eine andere Art des Genießens etablieren. Dafür wäre eine grundlegende Änderung unserer Art von Produktion und Konsumtion notwendig.
"Wie schnell doch die Zeit vergeht" ist ein beliebter Seufzer zum Jahreswechsel. Professionell über Zeit und unseren Umgang mit diesem Rohstoff denkt Prof. Dr. Fritz Reheis nach. Der 65-jährige gebürtige Oberbayer unterrichtete lange am Arnold-Gymnasium in Neustadt bei Coburg. Heute lehrt er Didaktik der Sozialkunde am Lehrstuhl für Politische Theorie der Bamberger Universität, ist Referent und Autor zahlreicher Bücher, darunter "Die Kreativität der Langsamkeit" (1996) und "Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus" (2003).
Wenn sich an Silvester die Mitternachtsstunde naht, reflektieren Sie dann theoretisch über das Phänomen Zeit und wie wir mit ihr umgehen?Reheis: Ich persönlich pflege keine speziellen Silvesterrituale. Wenn ich Bilanz ziehen möchte, dann orientiere ich mich nicht so sehr am Kalender, sondern an meinen eigenen Projekten.
Wobei natürlich auch ich Jahres-, Monats- und Wochenplanungen mache. Das reicht jedoch bei weitem nicht, um vernünftig und nicht zerstörerisch mit Zeit umzugehen.
Sie publizieren viel, Sie halten Vorträge, Sie lehren. Also eigentlich müssten Sie doch ebenso wie alle sehr gehetzt sein.Ich bin ein relativ disziplinierter Mensch und versuche in der Zeit, in der ich arbeite, rational zu planen und meine Kräfte möglichst effektiv einzusetzen. Aber ich plane zwischendrin auch Auszeiten ein. Das ist für die Gesundheit absolut erforderlich, dass man ohne schlechtes Gewissen Zeiträume hat, in denen man einfach nach dem Lustprinzip, der inneren Zeit lebt.
Also so etwas Altmodisches wie "Muße" sucht?Muße ist der richtige Begriff dafür, ja.
Freizeitstress kennen Sie nicht?Da bin ich ziemlich unanfällig. Ich reagiere auch nicht auf Werbung. Werbung ist für mich nur Belästigung. Aber dennoch neige ich dazu, mich mit selbst gestellten Aufgaben an die Grenze zu bringen, das passiert mir schon auch. Aber ich fühle mich noch relativ fit und glaube, dass ich Stress bis jetzt relativ gut vermieden habe.
Wie sind Sie auf die Themen Hetze, Zeit, Entschleunigung gestoßen?Ich glaube, das hat eine biografische Wurzel. Ich hatte als Kind früh gemerkt, dass mir vieles zu schnell ging, und meine Langsamkeit lange als Makel empfunden. Bis ich das Buch "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny gelesen habe. Das war gewissermaßen ein Erweckungserlebnis.
Denn da werden in Romanform am Beispiel des Seefahrers und Polarforschers Benjamin Franklin die Themen Schnelligkeit, Langsamkeit, Oberflächlichkeit, Gründlichkeit erörtert. Seitdem beschäftigt mich die Frage, woher der Zeitdruck eigentlich kommt und welche Schäden er anrichtet. Dazu kam: Im Studium hatte ich mich viel mit kritischer Gesellschaftstheorie befasst und ich hatte mich über eine Wissenschaft geärgert, die sich immer nur bestimmte Aspekte der Welt herausgreift und das Ganze des Lebens dabei verfehlt. So entstand die Idee, nicht das Geld im Zentrum zu sehen, sondern die Zeit und den Zuammenhang zwischen Geld und Zeit genauer zu erforschen. Das war für mich eine faszinierende Aufgabe, und da ist dann das Buch "Die Kreativität der Langsamkeit" entstanden.
Das Buch hat sich etwa 50 000-mal verkauft.
Was mir an Ihren Büchern gut gefallen hat, ist, dass Sie nicht alle Verantwortung aufs Individuum abschieben. Denn der Appell, positiv zu denken, ist oft Quatsch und macht krank. Sie treffen Ihre Analysen vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems. Können Sie mit wenigen Worten umreißen, wie dieses Wirtschaftssystem Zeit verbraucht?Ich glaube, das Bild vom Hamsterrad trifft den Kern der Sache. Ein Hamsterrad ist ein Rad, in dem man sich bewegt, aber nicht vom Fleck kommt. Ich sage immer: Die Hamster sind klüger, weil die aussteigen, wenn sie keine Lust mehr haben, und sie sind klüger, weil sie mit gleichem Tempo dahintrippeln und nicht ständig schneller werden wollen.
Wir Menschen aber haben unser Leben so organisiert, dass wir unser Tempo ständig erhöhen müssen, immer schneller unterwegs sind, weil wir uns immer in einer Konkurrenz zu anderen sehen. Am Schluss stellen wir fest, dass wir nicht glücklicher werden, obwohl Sozialprodukt und Einkommen ständig steigen. Woher kommt dieser Wahnsinn? Unsere Wirtschaft möchte möglichst aus allem, was kreucht und fleucht, Geld machen und dabei möglichst alle Grenzen überwinden, alle räumlichen und zeitlichen. Diese Eigendynamik des Geldes führt dazu, dass wir die Möglichkeiten, die wir gewinnen, nicht in Form von Muße auszahlen, sondern dass die sofort wieder investiert werden in neue Arbeit, in neue Produkte.
Konkret: Wenn Sie am Arbeitsplatz eine neue Software haben und können etwas in der halben Zeit machen, bedeutet das nicht, dass Sie dann mittags heimgehen können, sondern Sie kriegen in der Regel eine weitere Arbeit aufgebrummt. Beim Konsumenten passiert dasselbe. Er muss systematisch unzufrieden gemacht werden. Fazit: Die Eigendynamik des Geldes auf der Produktions- und der Konsumtionsseite zwingt uns, in dem Hamsterrad immer schneller zu rennen und immer mehr innere und äußere Energien einzusetzen Und dennoch merken wir, dass wir auf der Suche nach einem besseren Leben nicht wirklich vorankommen.
Manche sagen, dass die Deutschen eine kulturelle Revolution brauchen, mehr arbeiten müssen. Ist das angesichts der Nationen-Konkurrenz in einer globalisierten Welt nicht konsequent?Sachzwänge sind natürlich gesellschaftlich gemachte Zwänge, von Menschen gemacht.
Aber ganz klar: Der Einzelne kann nicht einfach so aussteigen. Deshalb unterscheide ich zwischen drei Strategien auf je unterschiedlichen Ebenen. Die Zeithygiene als individuelle Strategie kann jeder für sich selber ab morgen schon nutzen. Die zweite Stategie ist die Zeitpolitik, die sich nur im Rahmen des demokratischen Gemeinwesens umsetzen lässt. Und die dritte Stategie ist der Umbau unserer Ökonomie zu einer zeitbewussten Ökonomie. Von diesen drei Ebenen kann die erste ab heute beginnen, Zeitpolitik und erst recht der Umbau der Ökonomie sind nur begrenzt im nationalen Alleingang zu bewältigen. Das Ganze ist letztlich eine globale und langfristige Aufgabe. Aber mittlerweile spricht sich herum, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte sein darf und kann.
Was wären denn zeithygienische Maßnahmen, die jeder sofort verwirklichen kann? Wichtig erschenit mir, im Leben Grenzen zu
setzen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger des Sukzessionsprinzips im Gegensatz zum Simultanitätsprinzip - Multitasking ist für mich das Schlimmste, das kostet mich Energien und zerstört meine Kreativität. Und ich glaube, das geht vielen Menschen so. Man sollte also Sachen nacheinander machen, Erfolgserlebnisse genießen, die eigene Wirksamkeit spüren. Also nicht auf tausend Baustellen gleichzeitig arbeiten.
Ist Konsumverzicht ein probates Mittel? Sokrates soll über den Markt von Athen gegangen sein und sich gefreut haben, dass er das meiste nicht braucht. Ja, aber Konsumverzicht sollten wir nicht immer als Einschränkung begreifen, sondern die Chancen nutzen, die in einer anderen Form des Genießens liegen. Diese Chancen gilt es zu entdecken, das wäre die Aufgabe.
Es sind ja bekanntlich die guten Gespräche, die kreativen Tätigkeiten und andere konsumferne Situationen, die uns den meisten Genuss verschaffen. Von diesen Genüssen versuchen uns die Werbe- und Marketingstrategen der herrschenden Konsum- und Wegwerfkultur mit aller Macht abzulenken. Es geht insgesamt also um nachhaltigere und verantwortbarere Formen des Genießens. Die seit einem knappen Jahr auch in Bamberg existierende Transition- Town- Bewegung zeigt, in welche Richtung dieser Kulturwandel gehen könnte. Über die ersten Repair-Cafés hat diese Zeitung ja schon berichtet.
Konsumverzicht ist gut und schön, aber immer mehr Menschen können den gar nicht leisten, weil sie eh schon ständig verzichten und schauen müssen, wie sie irgendwie über die Runden kommen.Die individuelle Strategie ist natürlich begrenzt auf privilegiertere Schichten.
Aus zeitpolitischer Perspektive ist das genau der Punkt, an dem man sagen muss, das reicht nicht: Es braucht nicht nur Vorreiter, die zum Beispiel Zeitwohlstand als ihr Lebensziel anstreben im Gegensatz zum Güterwohlstand, die so genannten Zeitpioniere. Sondern diese Pioniere sollten auch von der Gesellschaft dafür belohnt werden, dass sie alternative Lebensstile ausprobieren und zeigen, dass es neben dem materiellen Güterwohlstand auch das Ziel des Zeitwohlstands gäbe. Diese Form des Wohlstands ermöglicht nicht nur auf Dauer mehr Genuss, sondern ist auch mit den begrenzten Lebensgrundlagen auf unserem Planeten sehr viel verträglicher. Als zeitpolitische Maßnahme zur Belohnung von Zeitpionieren wären Anreizsysteme wie etwa das bedingungslose Grundeinkommen denkbar, das ja politisch immer mehr Anhänger findet.
Ihr Ruhestand ist nicht mehr allzu ferne.
Was werden Sie mit der vielen freien Zeit anfangen?Ich werde dann vermutlich ganz ähnliche Dinge tun wie bisher: lesen und nachdenken, schreiben und Vorträge halten.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir so viel Zeit gewidmet haben. Das Gespräch führte Rudolf Görtler.