CDU-Chef Friedrich Merz forderte die Bundesregierung auf, schon in den nächsten Tagen ihren Kurs zu korrigieren. Das sei im Interesse des Landes dringend notwendig. Der Wahlabend sei für die Ampel vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr nun "die wirklich letzte Warnung". Die Koalition von SPD, Grünen und FDP schade Deutschland. Das gelte für die Innenpolitik, beispielsweise mit den Entscheidungen zu Migrationsfragen, aber auch für die Wirtschaftspolitik. CSU-Chef Markus Söder sagte: "Die Ampel ist de facto von den Bürgerinnen und Bürgern abgewählt worden."
AfD-Chef Tino Chrupalla nannte das Ergebnis seiner Partei "historisch". "Ich höre, wir sind im Osten bei dieser Wahl jetzt stärkste Kraft, mehr Rückenwind gibt's ja nicht", sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September.
Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang reagierte enttäuscht auf die Stimmenverluste ihrer Partei. "Das ist nicht der Anspruch, mit dem wir in diese Wahl gegangen sind, und wir werden das gemeinsam aufarbeiten", sagte die Co-Parteichefin in der ARD.
Die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann betonte, dass die Partei ihr Ergebnis der letzten Europawahl in etwa gehalten habe. "Das es jetzt eine stabile fünf Prozent ist, ist eine gute Nachricht", sagte sie in der Parteizentrale in Berlin. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai wich der Frage aus, ob er noch Vertrauen zum Bundeskanzler habe. "Darum geht es doch jetzt nicht", sagte Djir-Sarai in der ARD.
Linken-Parteichef Martin Schirdewan sprach von einem bitteren Abend. Es sei der Linken nicht gelungen, mit ihren Themen durchzudringen, obwohl diese an den Alltagssorgen der Menschen angedockt seien - Löhne, Mieten, die Preisentwicklung, die Umverteilung von oben nach unten, sozialer Klimaschutz und Friedenspolitik. Man habe sich gegen den Rechtsruck und gegen die Beharrungskräfte der anderen Parteien nicht durchsetzen können.
BSW-Parteigründerin Wagenknecht äußerte sich froh und erleichtert über das Abschneiden ihres Bündnisses. Es gebe "ein großes Potenzial", das sie bei folgenden Wahlen ausbauen wolle. Wagenknecht bekräftigte, dass sie eine diplomatische Initiative im Krieg Russlands gegen die Ukraine für nötig halte. "Viele Menschen machen sich Sorgen, dass der Krieg auch zu uns kommt."
In ganz Europa gewann das Mitte-Rechts-Bündnis EVP mit der deutschen Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen. Nach einer ersten offiziellen Prognose des Europäischen Parlaments kann die CDU-Politikerin trotz starker Zugewinne von Rechtsaußen-Parteien auf eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission hoffen. Insgesamt bleibt das klar proeuropäische Lager weiter das mit Abstand größte.
In vielen EU-Staaten, darunter Deutschland, war bereits vor der Wahl ein Plus für rechte Parteien erwartet worden. So hatten Umfragen die AfD zwischenzeitlich bei mehr als 20 Prozent gesehen. Vorwürfe gegen ihren Spitzenkandidaten Maximilian Krah und die Nummer zwei auf der Europawahl-Liste, Petr Bystron, brachten die Partei aber in Schwierigkeiten. Beide gerieten wegen möglicher Verbindungen zu prorussischen Netzwerken in die Schlagzeilen, im Fall Krah geht es zudem um mögliche China-Verbindungen.
Gegen Bystron wird wegen des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit und der Geldwäsche ermittelt. Krah, seit 2019 Europaabgeordneter, erntete zuletzt massive Kritik für verharmlosende Äußerungen über die SS, die sogenannte Schutzstaffel der Nationalsozialisten. Der Bundesvorstand der AfD forderte Krah daraufhin dazu auf, im Wahlkampf nicht mehr aufzutreten. Die rechte Fraktion ID (Identität und Demokratie) im Europaparlament schloss als Konsequenz alle deutschen AfD-Abgeordneten aus.
In den 27 EU-Staaten waren rund 360 Millionen Bürger wahlberechtigt, davon knapp 61 Millionen Deutsche. Gewählt wurden von Donnerstag bis Sonntag - je nach Land - 720 Abgeordnete für das neue Europäische Parlament, davon am letzten Tag 96 in Deutschland.
Update vom 09.06.2024, 19 Uhr: Jubel bei der AfD - tiefe Sorgenfalten bei der SPD
Ein schwarzer Abend für die Ampel: SPD, Grüne und FDP haben bei der Europawahl nach den ersten Prognosen zusammen noch nicht einmal ein Drittel der Stimmen eingefahren und sind allesamt hinter der AfD gelandet. Die wurde zwar nicht ganz so stark, wie vor einigen Monaten noch zu erwarten war, aber der Trend geht klar nach rechts. Und mit der Union gibt es einen deutlichen Sieger. Die SPD von Bundeskanzler Olaf Scholz hatte schon bei der Europawahl 2019 mit 15,8 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Abstimmung eingefahren. In den ersten Prognosen lag sie am Sonntagabend noch darunter - bei 14 Prozent. "Für uns ist das ein ganz bitteres Wahlergebnis", sagte Generalsekretär Kevin Kühnert in einer ersten Reaktion.
Bei den Grünen schluckte die Parteiführung kollektiv, als bei ihrer Wahlparty in der Berliner Columbiahalle um 18 Uhr die erste Prognose mit mauen 12,5 Prozent eingeblendet wurde. Die versammelte Anhängerschaft stöhnte gequält - und gleich noch einmal, als kurz darauf das deutlich bessere Ergebnis der AfD angezeigt wurde. Das selbst gesteckte Ziel, die AfD zu schlagen, haben die Grünen verfehlt. Lange haben die Grünen von politischer Verantwortung im Bund geträumt, doch das Image als unverbrauchte Hoffnungsträgerin liegt mit der Beteiligung in Scherben - Stichwort Heizungsgesetz. Im Vergleich zur vorherigen Europawahl mit ihrem Ergebnis von 20,5 Prozent sind die Grünen geradezu abgestürzt.
In der AfD-Bundesgeschäftsstelle im Norden Berlins brach um 18 Uhr Jubel aus, Deutschlandfähnchen wurden geschwenkt. Ein deutliches Plus von 5 Prozentpunkten nach ersten Prognosen im Vergleich zur letzten Europawahl 2019 (11 Prozent). Parteichef Tino Chrupalla nannte das Ergebnis historisch und zeigte sich vor allem zufrieden damit, dass seine Partei noch vor der Kanzlerpartei SPD auf Platz zwei landete. Bei der Union galt: Neue Geschlossenheit, neues Programm, ein kürzlich bei der ersten Wiederwahl in seiner internen Macht gestärkter CDU-Chef Friedrich Merz - und die Europawahl erwartungsgemäß klar gewonnen. Die CDU-Granden feierten genüsslich die Klatsche für die Ampel-Regierung. Gerade auch, weil die Europawahl die erste bundesweite Abstimmung seit dem 24,1-Prozent-Desaster im Bund 2021 war. "Wir haben das beste nationale Ergebnis erzielt", freute sich Markus Söder (CSU). Die Ampel-Parteien seien "heruntergerauscht", man sei "in Bayern überragend".
Update vom 09.06.2024, 18.29 Uhr: Hochrechnung bestätigt Ampel-Klatsche - Union stärkste Kraft
Um 18.27 Uhr hat die ARD eine erste Hochrechnung veröffentlicht. So schneiden die größeren Parteien ab:
- CDU/CSU: 29,6 %
- SPD: 14 %
- Grüne/Bündnis 90: 12 %
- FDP: 5 %
- AfD: 16,4 %
- Die Linke: 2,8 %
- BSW: 5,7 %
Update vom 09.06.2024, 18 Uhr: Erste Prognose zur Europawahl in Deutschland
Um 18 Uhr hat die ARD eine erste Ergebnisprognose veröffentlicht. So haben die Parteien in Deutschland demnach abgeschnitten:
- CDU/CSU: 29,5 %
- SPD: 14 %
- Grüne/Bündnis 90: 12 %
- FDP: 5 %
- AfD: 16,5 %
- Die Linke: 2,8 %
- BSW: 5,5 %
- Partei: 1,8 %
- FW: 2,6 %
- ÖDP: 0,8 %
- Volt: 2,8 %
- Piraten: 0,5 %
- Tierschutzpartei: 1,4 %
Erstmeldung vom 09.06.2024, 9 Uhr: 96 Abgeordnete aus Deutschland - Aufschwung rechter Parteien prognostiziert
Insgesamt geht es um Mandate für 720 Abgeordnete – 96 von ihnen werden aus Deutschland kommen. Abgesehen von der Parlamentswahl in Indien ist die Europawahl die größte demokratische Abstimmung weltweit – und die einzige Direktwahl über Staatsgrenzen hinweg. Angetreten sind in Deutschland etwa 1400 Wahlbewerber für 35 Parteien und sonstige politische Vereinigungen.
Umfragen zufolge dürften in etlichen der 27 EU-Staaten rechte Parteien stark abschneiden, unter anderem in Österreich, Frankreich und Italien. In Deutschland können CDU und CSU laut Umfragen damit rechnen, die Europawahl mit großem Vorsprung zu gewinnen. Dahinter liegen SPD, Grüne und AfD in etwa gleichauf.
Die erste Prognose für die Sitzverteilung des neuen Europaparlaments wird am Sonntag voraussichtlich zwischen 20.15 und 20.30 Uhr bekanntgegeben. Die ersten vorläufigen Ergebnisse aus einigen EU-Staaten werden nach 23 Uhr erwartet.
Neben Europawahl auch zahlreiche Kommunalwahlen: AfD könnte in Thüringen mehrere Bürgermeister und Landräte stellen
Parallel zur Europawahl sind die Wahlberechtigten am Sonntag in mehreren Bundesländern aufgerufen, ihre Kommunalparlamente zu wählen: Entscheidungen über Vertretungen wie Kreistage, Gemeinderäte oder Bezirksversammlungen stehen in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt an.
In Thüringen, wo bereits vor zwei Wochen die Kommunalwahlen stattfanden, können viele Bürgerinnen und Bürger zudem über ihren künftigen Landrat oder Oberbürgermeister entscheiden. In 15 Landkreisen und kreisfreien Städten kommt es zur Stichwahl – in neun Fällen stehen auch AfD-Kandidaten zur Wahl. Die Partei hatte in der ersten Runde der Kommunalwahlen zwar etliche Mandate in den Kommunalparlamenten dazugewonnen, ein Durchmarsch in die Rathäuser und Landratsämter war ihr aber nicht gelungen. In Franken wird in Erlangen auch über die Stadt-Umland-Bahn, kurz StUB, entschieden - ein knappes Ergebnis wird hier erwartet.
Interessant dürfte auch das Abschneiden der Parteien in Brandenburg und Sachsen werden – dort gelten die Kommunalwahlen vor den Landtagswahlen im September als Stimmungstest. In mehreren Städten gingen Menschen am Tag vor der Wahl gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße. Ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen hatte dazu unter anderem in Berlin, Hamburg, München, Köln und Dresden aufgerufen. Allein in Berlin kamen nach Angaben der Polizei etwa 15.000 Menschen zusammen. Dort waren auf den Demo-Schildern unter anderem Sprüche wie "Herz statt Hetze", "Menschenrechte statt rechte Menschen" und "Vielfalt ohne Alternative" zu lesen.
Angriff auf AfD-Politiker in Dresden - diesen Einfluss haben Wähler bei der Europawahl
Der Wahlkampf war bis zuletzt auch durch Angriffe auf Politiker geprägt. In Dresden wurde am Samstag ein AfD-Politiker angegriffen. Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte nach einer körperlichen Attacke am Freitagabend mehrere Termine ab. Deutschland stellt als bevölkerungsreichstes Land der EU auch die meisten Abgeordneten im Parlament. Trotzdem sind deutsche Abgeordnete im Vergleich zur Bevölkerungszahl unterrepräsentiert, Abgeordnete kleinerer Länder überrepräsentiert. Das liegt unter anderem daran, dass es bei gleichen Verhältnissen entweder deutlich mehr Abgeordnete geben müsste oder Länder wie Malta, Luxemburg und Zypern nur durch eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten vertreten wären.
Da auf EU-Ebene auch die EU-Staaten maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt sind, ist der Einfluss der Abgeordneten auf die neuen Gesetze zwar etwas beschränkt, aber dennoch erheblich. Sie müssen zahlreichen Gesetze zustimmen und können sie im Zweifel auch verhindern. Grundsätzlich ist die Gesetzgebung auf EU-Ebene eher auf Kompromissfindung mit teils wechselnden Mehrheiten ausgelegt, als dies etwa im Bundestag der Fall ist.
Auch bei der Verteilung von Geldern, wie beispielsweise der milliardenschweren EU-Agrarförderung, hat das Parlament ein entscheidendes Wort mitzureden. In Deutschland gibt es - anders als bei der Bundestagswahl - keine Sperrklausel. Nach der Wahl beeinflusst das Europäische Parlament auch die Besetzung der EU-Kommission. Es kann Vorschläge der EU-Staaten für die Besetzung der Kommission ablehnen.
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