In Sibylle Bergs "Viel gut essen" kommt ein viel geschmähter Sozialcharakter zu Wort. Doch der Hassbürger erregt in der Bamberger Studio-Inszenierung eben so viel Mitleid wie Abscheu.
Von Sibylle Berg heißt es, dass sie als einzige Frau in eine Männerdomäne eingedrungen ist: die des Zynismus und der Misanthropie. Das ist diskussionswürdig. Fragt sich, ob ihr Stück "Viel gut essen", vergangenes Jahr in Köln uraufgeführt, am Freitag im Studio des E.T.A.-Hoffmann-Theaters von Niklas Ritter inszeniert, mit diesen Determinanten zu analysieren ist.
Ja und nein. Ja, weil es die Psyche eines Durchschnittsbürgers erbarmungslos seziert. Ja, weil es keine Lösung, nicht einmal den Schimmer einer Hoffnung anbietet. Nein, weil es allzu wohlfeile Denunziation verweigert. Denn es könnte so einfach sein: Da spricht ein Troll, ein Pegida-Mitmarschierer, ein Hassbürger, ein Rechter, ein potenzieller Nazi ... Auch die vermeintlich gute, linke Seite neigt zu Vorurteilen und Pauschalisierungen. Die dieses Stück verweigert.
Wir sehen Christian, einen Mittvierziger, als verlorene Existenz.
Seine Frau ist ihm mit dem gemeinsamen Sohn davongelaufen, der Job als IT-Techniker in einer Anwaltskanzlei ist weg, er kann die Miete nicht bezahlen, und sein Viertel gentrifiziert sich auf der einen Seite, wie es andererseits verslumt. Nicht einmal das Essen, das er in verzweifelter Hoffnung auf deren Rückkehr für seine Familie kocht, gelingt ihm. Seine Reaktion: die Suche nach Sündenböcken. In seinem selbstmitleidigen Monolog teufelt er auf alle und alles ein: die EU, die Schwulen von nebenan, Muslime, junge Karrierefrauen - mit Migrationshintergrund!
Zu raffiniert für Bequemlichkeit
So weit, so bekannt. Die Autorin ist aber viel zu raffiniert, als dass sich die Zuschauer als gute Menschen selbstzufrieden zurücklehnen könnten. Der Grat zwischen legitimer Kritik und Ressentiment ist schmal.
Haben unter Gentrifizierung nicht viele Städte zu leiden? Der Sohn ist von "Muslimen oder Roma" zusammengeschlagen worden, zweimal. Der Konkurrenzdruck im Berufsleben zermürbt nicht nur weiße Mittelschichtsmänner.
Niklas Ritters Inszenierung versucht diese Ambivalenz zu thematisieren und zu erklären. Das Bühnenbild von Bernd Schneider besteht im Wesentlichen aus überdimensionalen Bilderrahmen, zu Beginn schwarz, rot, gold, als Symbol für die Begrenzungen dieses eindimensionalen Menschen. Früh ahnt man, dass er sich nicht befreien können wird. Der Monolog der Hauptfigur könnte ermüden, wäre er nicht aufgeteilt auf drei Schauspieler mit frei flottierenden Geschlechtsidentitäten und hastig modifizierten Kostümen. Das ist ein wildes Spektakel, wenn Stefan Hartmann, Pascal Riedel und Katharina Rehn abwechselnd jammern oder sich auskotzen.
Wobei Letzteres durch einen Chor auf die Spitze getrieben wird, wenn die Drei unisono etwa "Es ist zu voll geworden. Die Welt ist zu einem Scheißhaufen geworden" intonieren.
Doch wie wird einer so ("Ich belästige alle Randgruppen als normaler weißer Mann"), wie er ist? In einer Parallelhandlung ist die familiäre Sozialisation des Helden, der keiner mehr ist, eingeflochten. Die Mutter hatte die Familie ebenfalls verlassen, der Vater verstummte und trank, die Altersgenossen spotteten. Identität bildete sich durch die Übererfüllung gesellschaftlicher Normen, die brüchig geworden sind.
Heftige Inszenierung
An die heftige Inszenierung, die Groteske und Spektakel nicht scheut, sondern sucht, muss man sich erst einmal gewöhnen. Zerhackte Zwiebeln, im Laufschritt rechtsum, atavistisch beschmierte Gesichter - dann aber gerät man in einen Sog.
Die Schauspieler kommen hervorragend damit zurecht und geben alles. Besonders Pascal Riedel, den man als Nibelungen-Siegfried eher unbekümmert agieren sah, kehrte sein Innerstes nach außen.
Mehr als eine Zugabe war die Musik Jan Kersjes, der einerseits elektronische Samples abrief, die an Tangerine Dream oder Michael Nyman erinnerten, andererseits mit realer Percussion oder auch mal einem Didgeridoo das deprimierende Geschehen begleitete. Zum Schluss heißt es aktuell: "Steht auf, Bürger, es ist Krieg!" Der Antiheld sagt "Ich habe Angst" und zieht die Konsequenz.
Termine und Karten
Weitere Vorstellungen 2., 3., 7., 11., 15., 19., 21., 29. 12.
Karten Tel. 0951/873030, E-Mail kasse@theater.bamberg.de, bvd, Tel. 0951/98082-20, u. a.