Von O bis O: So lautet die verbreitete Faustregel in puncto Winterreifen. Aufgrund der Wetterbedingungen in Deutschland sollten Autofahrer daher ihre Winterreifen von Oktober bis Ostern im darauffolgenden Jahr aufgezogen lassen. Einige Leute trauen sich selbst den Reifenwechsel nicht zu, andere gehen der Einfachheit halber zum Reifenwechsel in die Werkstatt. Aber sind wir nach dem Reifenwechsel für deren Wartung zuständig und im Falle einer Fehlfunktion selbst schuld?

Der Fahrer eines hochmotorisierten und getunten Autos - ein Mercedes C 63 AMG mit 830 PS - hat eine Klage eingereicht. Sein Hinterrad war während der Fahrt, nach dem Wechsel auf Winterreifen in einer Werkstatt, abgefallen. Das geschah nach etwa 100 gefahrenen Kilometern seit dem Werkstattbesuch im Jahr 2017. Infolge des Radverlustes kam es zu einem Unfall, bei dem ein Schaden von 13.000 Euro entstanden war.

Versicherung übernimmt den Schaden: Doch die Kosten sind deutlich höher als das

Obwohl die Vollkasko-Versicherung des Fahrzeughalters die Unfallkosten übernommen hatte, entstanden dem Autobesitzer weitere Gebühren: für Anwalt, Transport, Selbstbeteiligung, Nutzungsausfall, Sachverständigenkosten und neue Reifen und Felgen mussten auch noch her. Zudem hatte der Unfall den Wert des Autos gemindert. Wegen dieser Faktoren forderte der Mann etwa 25.000 Euro von der Werkstatt. Er gab dem Unternehmen die Schuld, da sie dafür hätten sorgen müssen, dass nach dem Reifenwechsel kein Unfall passieren kann.

Die Klage ging vor das Oberlandesgericht München und das Landgericht München II. Die Frage, ob im Schadensfall wegen eines verlorenen Rades nach einem Reifenwechsel die Werkstatt oder der Autobesitzer haftet, konnte geklärt werden.

Das Landgericht München II sah eine 30-prozentige Mitschuld beim Autobesitzer, da der Mann nach 50 Kilometern Fahrt die Radmuttern hätte nachziehen müssen. Die Werkstatt habe lediglich eine Mitschuld an dem Unfall. Der Kunde sei von ihnen mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Muttern nachgezogen werden müssen: Mündlich bei der Übergabe des Autos und schriftlich auf der Rechnung.

Mehrfach erinnert worden: Liegt die Schuld beim Autofahrer?

Ein Zeuge habe zudem angegeben, dass er den Autobesitzer gefragt hat, ob er ihm eine Plakette zur Erinnerung an das Nachziehen am Armaturenbrett befestigen soll. Der Kunde habe abgelehnt. Des Weiteren habe ein Plakat ausgehangen, dass die Wichtigkeit des Nachziehens der Radmuttern nach dem Reifenwechsel betont.

Anhand dieser Faktoren sprach das Gericht dem Autofahrer 5.264 Euro zu und ging nicht auf seine Forderung nach 25.000 Euro ein. Der Mann ging daraufhin in Berufung.

Der Fall landete auch vor dem Oberlandesgericht München, das hingegen keine Mitschuld beim Autobesitzer feststellte. Kunden müssen sich nach einem Werkstattbesuch darauf verlassen können, dass sie keine Arbeiten mehr an ihren Fahrzeugen durchführen müssen. Nach fünfzig Kilometern sollte das Festsitzen der Radmuttern also gewährleistet sein. Auch eine Erinnerungs-Plakette oder ein Vermerk in der Rechnung mache diese Tatsache nicht hinfällig.

Gutachter hinzugezogen: Eigene Sicherheit geht vor

Ein hinzugezogener Sachverständiger sagte vor Gericht aus, dass besonders bei hochmotorisierten Autos beim Anfahren und Beschleunigen hohe Kräfte auf die Radmuttern einwirken. Daher sei die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich Schrauben lockern, als bei Fahrzeugen mit weniger Leistung. Autobesitzer sollten daher zu ihrer eigenen Sicherheit die Schrauben überprüfen. Im Schadensfall trägt rein rechtlich die Schuld dennoch die Werkstatt.

Die Pressesprecherin des Bundesverbands Reifenhandel Martina Schipke wies darauf hin, dass sich die Antwort auf die Frage nach einem Mitverschulden des Kunden jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richte, das Urteil damit eine Einzelfallentscheidung sei. "Das Urteil ist rechtlich gesehen also nicht allgemeingültig und es gibt eine Vielzahl anderslautender Entscheidungen zu diesem Sachverhalt."

Expert*innen empfehlen auf jeden Fall das Nachziehen der Radbefestigungsteile nach einer gewissen Fahrtstrecke, die auf eine Radmontage folgt. So weist etwa der Verband der europäischen Räderhersteller EUWA in seinen Sicherheits- und Wartungshinweisen für den Gebrauch von Rädern in Reifenwerkstätten (Standard vom Juni 2020) explizit auf die technische Notwendigkeit des Nachziehens hin: "An einem neuen Fahrzeug und bei jedem Rad-, beziehungsweise Reifenwechsel ist es unbedingt erforderlich, das Anzugsdrehmoment nach circa 50 bis 100 Kilometern Fahrleistung zu überprüfen und falls notwendig, die Radschrauben erneut bis zum korrekten Wert anzuziehen."

Nachziehen ist unabdingbar: Egal, ob selbst oder durch eine Servicewerkstatt

Auch weitere Expert*innen heben diese Notwendigkeit hervor. Ergänzend bezeichnet eine Stellungnahme der führenden Felgenhersteller "das Nachziehen der Radschrauben beziehungsweise Radmuttern bei Leichtmetall-Rädern als unabdingbar, um ein eventuell auftretendes Setzverhalten auszugleichen und ein ausreichendes Anzugsmoment dauerhaft sicherzustellen".

"Wenn sich nach 100 Kilometern alle Radbefestigungselemente an einem Rad lösen, ist davon auszugehen, dass kein vorschriftmäßiges Anziehen bei der Montage erfolgt ist. Bei einem Nachziehen hätte dies aber gegebenenfalls korrigiert werden können", sagt Michael Schwämmlein, Geschäftsführer Technik beim Reifenfachverband BRV, mit Blick auf den vom OLG München entschiedenen Fall.

Er gibt Autofahrer*innen den Tipp mit auf den Weg: "Zugunsten der eigenen Sicherheit sollten Sie auf das Nachziehen der Radbefestigungsteile in der Servicewerkstatt nicht verzichten. In den meisten Reifenfachwerkstätten wird das kostenlos durchgeführt und dauert nicht länger als zwei Minuten. Das sollte einem die eigene Sicherheit schon wert sein!"