Pendler klagen in ARD-Doku ihr Leid: "Es gibt Tage, da denke ich: Lasst mich alle in Ruhe!"

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Pendlerstress: Eine Nation auf Achse
Einer von über 20 Millionen Pendlern, der täglich am Bahnhof steht und hofft, dass sein Zug pünktlich fährt und ankommt. Die NDR-Doku "Pendlerstress: Eine Nation auf Achse" beleuchtet den Alltag von vier Betroffenen.
NDR

Über 20 Millionen Bundesbürger pendeln täglich, immer unter Zeitdruck. Die NDR-Doku "Pendlestress: Eine Nation auf Achse" hat einige davon begleitet auf dem Abenteuer zwischen Autobahnstaus und Bahn-Verspätungen.

Gute Frage: "Über 20 Millionen Pendler täglich auf dem Weg zur Arbeit. Jeden Tag wieder die Herausforderung, pünktlich und sicher anzukommen. Was kann uns dafür starkmachen, was kann uns helfen? Für unsere Beziehungen, für unsere Arbeitswelt und für den Klimaschutz?" Leider wird diese Frage am Ende der 45-minütigen NDR-Doku "Pendlerstress: Eine Nation auf Achse" von Kristof Kannegießer gestellt. Antworten werden aber allenfalls angedeutet.

Die Dokumentation im Rahmen der "ARD-Story" folgt fünf Pendlern in ihrem Alltag. Der ist, wie der von über 20 Millionen Mitbetroffenen, ein tägliches Abenteuer. Verspätete Züge, Autobahnstaus, Baustellen - Pünktlichkeit und Tagesplanung wird zur Lotterie und zur Belastung.

"Man kann planen, wie man will, irgendwas kommt meistens dazwischen", sagt Stefan Hoch. Sein Tag beginnt um vier Uhr morgens, um fünf fährt er los, erst mit dem Auto, dann mit der Bahn und S-Bahn. Um acht ist er im Büro, um 17 Uhr geht er wieder raus und macht sich auf den Heimweg. Mit Glück ist er um 19 Uhr wieder zu Hause. Und, das sei - Spoiler! - vorweggenommen: Heute geht alles gut. Trotzdem sagt er auch: "Ich würde mir das gerne ersparen, aber es hilft ja nichts."

Über 20 Millionen Bundesbürger pendeln täglich

Das weiß auch Zukunfts- und Mobilitätsforscher Stephan Rammler: "Menschen pendeln, weil sie es müssen." Das ist die nach wie vor präsente Folge der Verkehrspolitik schon aus den 70er- und 80er-Jahren, als die Maxime ausgegeben wurde: Kein Mensch soll weiter als 20 Kilometer von einem Autobahnanschluss entfernt leben. Die massenweise Pendlerei war geplant. Und sie war eigentlich schon immer auf das Auto ausgerichtet. Und ist es noch immer. Rammler: "Wir leben auf der Spitze der Massenmotorisierung. Wir haben 50 Millionen verbrennungsmotorische Fahrzeuge, das ist Spitze in Europa."

Zum Pendlerstress kommt am Zielort Großstadt der Parkstress. Das war aber schon immer so, verstopfte Straßen gab es schon in den 70er-Jahren. Es wurden mehr Straßen gebaut. Aber mehr Straßen führten nicht zu weniger Staus, sondern zu mehr Verkehr. Verkehrswissenschaftler Philipp Kosok: "Da, wo am meisten Verkehr ist, ist das Auto ineffizient und Bus und Bahn wesentlich effizienter." Zahlenbeleg: Ein alleine in der Stoßzeit im Auto fahrender Pendler verbraucht 85 Quadratmeter Verkehrsraum, also Straßen und Parkplatz, ein in der Bahn fahrender nur vier Quadratmeter.

Es wäre sinnvoll, sagt Kosok, in Städten, wo Raum knapp ist, die Flächen auf Bus, Bahn und Radwege umzuverteilen. Davon kann sich Pendler Hoch heute aber nichts kaufen, wenn er wegen der Generalsanierung der ICE-Strecke Hamburg - Berlin (mindestens) neun Monate lang einen beschwerlichen und zeitraubenden Umweg inkauf nehmen muss.

Pendeln belastet die Beziehung und erhöht das Trennungsrisiko

Pendeln ist Belastung. "Wenn ich merke, es wird zeitlich eng, wird's hektisch im Auto. Bei mir", sagt Anika Gäde. Sie pendelt täglich vom Wohnort zu ihrem Arbeitsplatz ins Krankenhaus - und wird das laut eigener Planung "auch noch locker 25 Jahre lang" tun. Mit Bus und Bahn wäre sie im dünn besiedelten Gebiet der Altmark in Sachsen-Anhalt aber dreimal so lange unterwegs.

In dem Krankenhaus, in dem sie arbeitet, sind drei Viertel der Mitarbeitenden Pendler. Auch Claudia Zimzik, die seit acht Jahren täglich 34 Kilometer (einfach) runterschrubbt. Ihr Zwischenfazit: "Die Kinder sind sehr schnell groß geworden und viel mit Oma aufgewachsen."

Milena Kahl fährt jeden Montag für zwei Tage von Hiddenhausen bei Bielefeld nach Bremen, wo sie promovieren will. Sie und ihr Ehemann haben die Pendel-Entscheidung bewusst getroffen, sie wollten nicht nach Bremen umsiedeln. "Es ist für mich und uns als Paar das beste Modell", sagt Milena. Ihr Mann Benjamin fügt an: "Klar, wir können uns jede Woche vermissen." Es klingt nicht ironisch.

Trotzdem kommt auch Milena ins Schwitzen, wörtlich. Der Zug hat Verspätung, hektisches Rennen am Bahnhof Osnabrück, aber der Anschlusszug ist weg, eine Stunde Warten. Nach vier Stunden erreicht sie ihr Ziel. "Mit dem Auto hätte ich 35 Minuten gebraucht", sagt sie - wenn es keine Stau-Überraschung gibt, natürlich. Sie sagt: "An machen Tagen denke ich, das Pendeln mache ich für immer. Aber es gibt Tage, da denke ich: Lasst mich alle in Ruhe, ich will einfach nur zu Hause bleiben."

Pendlerin klagt: "An manchen Tagen will ich einfach nur zu Hause bleiben"

Der Forschung ist klar: Pendeln ist ungesund. Für Leib, Seele und Beziehungen. Stephan Rammler: "Leute, die unter Druck pünktlich sein müssen, erleben Stressspitzen wie Kampfpiloten im Jet." Kollege Kosok ergänzt, dass die Belastungen umso größer werden, je länger die Pendlerstrecke ist. Auch für die Beziehung. Kosok: "Langjährige weite Pendelwege erhöhen das Trennungsrisiko." Vor allem bei Frauen.

Zudem ist Pendeln teuer. Die Preise steigen und von der Erhöhung der Pendlerpauschale profitieren vor allem die Besserverdienenden. Trotzdem können oder wollen viele Menschen nicht vom Land in die deutlich teurere Stadt ziehen. Zudem gibt es eine hohe Bindung an die Immobilie, sagt Rammler. Motto: Wer was hat, gibt's ungern wieder her. Die Folgerechnung ist dann einfach. "Je flexibler der Arbeitsmarkt und je immobiler der Immobilienmarkt, desto höher ist die Notwendigkeit, mit Pendeln die Differenz auszugleichen", so Rammler.

Deshalb wird weiter gependelt. Auch bei Annette Keimel und Martin Öttl, die täglich 50 Kilometer von Jetzendorf in die Pendelhauptstadt München mit 500.000 Berufspendlern täglich, düsen. Sie sind stresserprobt. Martin Öttl, Autohändler, fährt von Berufs wegen gern Auto. Außerdem kennt er Schleichwege. Da kann er was herausholen, bis er vor München im täglichen Stau steht. Wie viel? "So ne Minute." Na, dann.

Quelle: teleschau – der mediendienst