«Krise der Männlichkeit» - oder eine Chance?
In öffentlichen Debatten ist oft von einer «Krise der Männlichkeit» die Rede. Horlacher hält das für verkürzt. Nicht Männlichkeit selbst sei in der Krise, sondern «das traditionelle Patriarchat und die damit verbundenen hegemonialen Formen von Männlichkeit», die Vorstellung, sie müsse stabil, stark und eindeutig sein, erklärt Horlacher. Weil diese Formen der Männlichkeit angeblich bedroht seien, «werden sie von rechten und konservativen Kreisen so stark propagiert.»
Tatsächlich befinde sich Männlichkeit seit jeher im Wandel – und genau darin liege ihr Kern. Die vielzitierte Krise ist laut Horlacher eher Ausdruck eines Übergangs, eines kulturellen Aushandlungsprozesses, was Männlichkeit bedeutet. «Das alte Bild des unabhängigen, starken und dominanten Mannes ist unter Druck geraten», sagt er. Viele Männer fühlten sich dadurch herausgefordert, ihre Rolle zu hinterfragen – ein Prozess, der anstrengend sei und Unsicherheit auslöse. «Deshalb sind junge Männer empfänglich für einfache Antworten und extrem verkürzte, unwissenschaftliche Erklärungsmuster.»
Von Heesen beobachtet, dass viele junge Männer daher derzeit vermehrt in rechte Online-Communities oder antifeministische Diskurse abgleiten. Algorithmen in sozialen Medien verstärkten diesen Effekt, indem sie Inhalte mit antifeministischem oder frauenfeindlichem Gehalt bevorzugt ausspielten.
Zwischen Biologie und Gesellschaft
Welche Rolle biologische Faktoren bei unserem Bild von Männlichkeit spielen, lässt sich nach Ansicht von Heesens kaum eindeutig beantworten. «Nehmen wir das Hormon Testosteron – es gibt Studien, die biologische Einflüsse belegen, und andere, die das klar widerlegen.»
Wichtiger sei es, soziale Konstruktionen zu erkennen, die Menschen in enge «Geschlechtergefängnisse» zwängen. Eigenschaften wie Empathie, Fürsorglichkeit oder Kooperation würden Männern immer noch seltener zugeschrieben, obwohl sie entscheidend für gesellschaftlichen Zusammenhalt seien.
Neue Leitbilder werden benötigt
Horlacher verweist darauf, dass Männlichkeit weder naturgegeben noch statisch sei. Sie zeige sich vielmehr in vielfältigen Formen – abhängig von sozialer Schicht, Herkunft, Religion oder Generation. In der modernen Männlichkeitsforschung gehe es daher nicht mehr darum, eine einheitliche Definition zu finden, sondern die Vielfalt und Widersprüche von Männlichkeit zu verstehen.
«Wir müssen dahin kommen, dass Männer sich selbstverständlich empathisch, fürsorglich und kooperativ verhalten können – in Familie und Beruf», fordert von Heesen. Dafür brauche es neue Leitbilder, die Stärke nicht über Härte definieren, sondern über Verantwortung.
«Box der Männlichkeit muss gesellschaftlich aufgebrochen werden»
Dass Männer laut Horlacher im Durchschnitt früher sterben, häufiger zu riskantem Verhalten neigen und seltener psychologische Hilfe suchen, ist dabei kein Zufall, sondern Teil dieser erlernten Muster. Beide Forscher sind sich einig: Nur wer Männlichkeit als wandelbares, lernbares Konzept versteht, kann Strukturen aufbrechen, die Männern und Frauen schaden.