30 Jahre lang verschollen - Kanadier taucht wieder auf

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Mit diesen Bildern wurde jahrzehntelang nach dem 1986 verschwundenen Kanadier Edgar Latulip gesucht. Er selbst war es nun, der seinen eigenen Vermisstenfall löste. Foto: North American Missing Persons Network, dpa
Mit diesen Bildern wurde jahrzehntelang nach dem 1986 verschwundenen Kanadier Edgar Latulip gesucht. Er selbst war es nun, der seinen eigenen Vermisstenfall löste.  Foto: North American Missing Persons Network, dpa

30 Jahre lang gab es keine Spur von einem Kanadier. Seine Mutter hielt ihn für tot. Dann tauchte der Mann wieder auf. Seine Geschichte klingt unglaublich.

Silvia Wilson ist 76 Jahre alt. Sie wohnt im kanadischen Ottawa, nicht mehr in Kitchener wie damals. Längst hat sie sich damit abgefunden, dass ihr Sohn tot ist. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich hat sie ihn seit 1986 nicht gesehen. Also geht sie davon aus, dass sich ihr Sohn umgebracht hat. Denn er litt damals, als er verschwand, unter großen psychischen Problemen.

Fast dreißig Jahre danach erhält Silvia Wilson einen Anruf. Am Telefon: die Polizei aus der Niagara-Region, Provinz Ontario. Silvia Wilson kann kaum fassen, was sie hört: Ihr Sohn ist nicht tot. "Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Es hat mich umgehauen", erzählt sie der Lokalzeitung Waterloo Region Record.
Wieder etwas später, am Wochenende, hat sie mit ihrem Sohn telefoniert. Das Erste, was er gesagt habe, sei "Es tut mir leid" gewesen. "Er entschuldigte sich für all die Probleme, die er verursacht hatte.
Ich sagte ihm: ,Du musst dich nicht entschuldigen.'"

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Die Geschichte des heute 51-Jährigen klingt unglaublich, sein Verschwinden und Wiederauftauchen wirft viele Fragen auf. Die Polizei der Niagara-Region hat nach Aussage von Polizeisprecher Philip Gavin allerdings keinen Grund zu glauben, dass er seine Identität schon früher kannte und sich versteckt hielt. Er, das ist Edgar Latulip.


Erinnerungsvermögen verloren

Und das ist seine Geschichte, wie sie sich inzwischen rekonstruieren lässt: Seit früher Kindheit leidet er an psychischen Erkrankungen, ist in mehreren psychiatrischen Einrichtungen, Krankenhäusern und Wohngruppen untergebracht; der Kontakt zu seiner Familie bricht weitgehend ab.

"Er war hyperaktiv und unkontrollierbar", erzählt seine Mutter. Ein Kinderkrankenhaus in Montreal sei die erste Einrichtung gewesen, die ihn behandelt und ihm "antipsychotische Medikamente" verordnet habe. Im Laufe der Jahre wird Edgar Latulip in verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Zum letzten Mal sieht ihn seine Mutter im Krankenhaus von Kitchener, seiner Heimatstadt, die in der Nähe von Toronto liegt.
Er wird dort nach einem Suizidversuch betreut. In Kitchener lebt er in einer Wohngruppe. Am 2. September 1986 verschwindet der damals 21-Jährige spurlos.

Jetzt hat sich herausgestellt, dass Edgar Latulip wahrscheinlich mit dem Bus in Richtung Niagara-Fälle gefahren ist. In der Stadt St. Catharines - etwa 120 Kilometer von Kitchener entfernt am Ontariosee gelegen - hatte er vermutlich einen Unfall. Dabei erlitt er offensichtlich schwere Kopfverletzungen und verlor in der Folge sein Erinnerungsvermögen. Er vergaß auch, wer er ist. Er soll, so heißt es, in seiner Entwicklung gestört sein. Soll auf dem Stand eines Kindes sein.


Neue Identität

Fest steht: Fast 30 Jahre lang lebt dieser Edgar Latulip unter einem anderen Namen in der Niagara-Region. Wie er an seine neue Identität gelangte, ist unklar. Informationen darüber, was er in dieser Zeit tat, gibt die Polizei aus Gründen des Datenschutzes ebenfalls nicht preis. "Er lebte unabhängig", erklärt Polizeisprecher Gavin nur. Medien berichten, Edgar Latulip sei zeitweise obdachlos gewesen und habe Sozialhilfe bezogen.

Um die Jahreswende 2015/2016 kommen Teile seines Erinnerungsvermögens zurück. Einem Sozialarbeiter sagt er, er glaube, dass er einen anderen Namen habe. Er sagt, dieser Name sei "Edgar Latulip". Der Sozialarbeiter sucht erst im Internet nach dem Namen, dann geht er zur Polizei. Anfang Januar sucht Latulip dann selbst die Polizeistation in St. Catharines auf und stimmt einem DNA-Test zu. Ein DNA-Abgleich bringt die letzte Gewissheit - denn die DNA seiner Mutter liegt der Polizei bereits vor, zudem ist er in der Datei der vermissten Personen Kanadas verzeichnet.


Baldiges Wiedersehen

Nun sollen Edgar Latulip und seine Mutter wieder miteinander in Kontakt gebracht werden. Er scheine in einem wesentlich besseren mentalen Zustand zu sein als früher, sagt sie nach ihrem ersten Telefongespräch mit ihm seit Jahrzehnten. Die psychische Erkrankung ihres Sohnes habe sie und die ganze Familie schwer belastet.
Mutter und Sohn werden sich wohl bald wiedersehen, ein Treffen mit Latulips Vater aber ist unmöglich: Er starb im Jahr 2000.

von Gerd Braune