Warum scheint die Zeit schneller zu vergehen, je älter man wird? Der Neurowissenschaftler Marc Wittmann untersucht die menschliche Zeitwahrnehmung und erklärt dieses Phänomen.
Eine Frage wird Marc Wittmann immer wieder gestellt: Warum vergeht die Zeit gefühlt immer schneller? Das scheint eine universelle Erfahrung zu sein, erläutert der Medizinpsychologe und kognitive Neurowissenschaftler, der seit über 30 Jahren die menschliche Zeitwahrnehmung erforscht.
Schon Thomas Mann hat das Phänomen vor einem Jahrhundert in "Der Zauberberg" beschrieben. Besonders deutlich wird der beschleunigte Zeitverlauf von vielen Menschen um die Weihnachts- und Silvestertage wahrgenommen: Moment mal, kann tatsächlich schon wieder ein Jahr vergangen sein? War nicht gerade erst Neujahr, Sommer, wenigstens Herbst?
"Routine ist ein Zeitkiller": So kannst du die Wahrnehmung bewusst beeinflussen
Wittmann, der am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg arbeitet, fand bereits 2005 in einer Studie heraus: "Vor allem die vergangenen zehn Jahre sind sensitiv für unsere Zeitwahrnehmung. Je älter wir werden, desto schneller gehen diese zehn Jahre vorüber." Dieser Effekt beginnt laut ihm in der Teenagerzeit und erreicht erst mit 60 bis 70 Jahren ein Plateau. "In den 20ern, 30ern, 40ern und 50ern wird es stetig subjektiv schneller", fügt der Wissenschaftler hinzu. Aber was ist der Grund dafür? Eine mögliche Antwort ist laut Wittmann: "Routine ist ein Zeitkiller."
Für die rückblickende Zeitwahrnehmung sind Gedächtniseindrücke wichtig, was durch viele Untersuchungen unterstrichen wurde. "Und je mehr Neues wir in einem Zeitraum erleben, desto länger kommt uns dieser Zeitraum hinterher vor. Das kennen wir alle von einem Wochenende mit Freunden: Alles ist neu, man erlebt tolle Dinge. Später kommt es einem vor, als sei man ewig weg gewesen."
Einen ähnlichen Zusammenhang fanden die Wissenschaftlerinnen Dinah Avni-Babad und Ilana Ritov 2003 in einer Erhebung mit Strandurlaubern: Die ersten Ferientage wirkten auf die Teilnehmer gedehnt, da sie viele Erinnerungen sammelten. Doch je länger der Urlaub dauerte, desto mehr verkürzten sich die Tage subjektiv, da eine Art Freizeitroutine entstand. Laut Wittmann zeigt sich dieser Effekt auch über das Lebensalter hinweg: Als Teenager und junge Erwachsene macht man oft prägende Ersterfahrungen. "Doch irgendwann merken wir: Mensch, ich wohne seit 30 Jahren an demselben Ort, habe denselben Job und dieselben Freunde. Dann vergeht die Zeit gefühlt schneller, weil wir nichts Neues mehr besonders abspeichern", erklärt der Wissenschaftler.
Nerviges Warten zu etwas Angenehmem machen: Neurowissenschaftler hat Tipp parat
Das Phänomen ist sogar in der Zeit zwischen den Jahren erkennbar: "Dazu habe ich keine gesonderten Studien gemacht, aber viele Menschen machen diese Erfahrung." Für diejenigen, die Traditionen pflegen oder einfach nur Ruhe an den Feiertagen wünschen, können sich die Tage zwischen Weihnachten und Silvester also kurz anfühlen. "Oder was vielleicht das Beste ist: Man verliert das Gefühl für die Zeit", meint Wittmann. Im Gegensatz dazu können, wenn man im Skiurlaub an einem neuen Ort neue Menschen trifft, die Tage in der Rückschau durchaus gedehnt erscheinen. Die Emotionalität spielt dabei ebenfalls eine bedeutende Rolle, so der Buchautor ("Wenn die Zeit stehen bleibt").