Diese Struktur zeigt, dass Dienstleistungen mittlerweile den überwiegenden Anteil unserer Wirtschaftsleistung ausmachen. Als Vergleich: Im Jahr 1950 waren hier lediglich 32,5 % der Beschäftigten tätig. Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, bedeutet vereinfacht gesagt, über selbstbestimmte Zeit und ausreichend Geld zu verfügen. Damit verbunden ist auch ein gewisser Freiheitsgrad. Selbst wenn es kritische Stimmen zum Konzept der Maslowschen Bedürfnispyramide gibt, so stellt diese doch sehr anschaulich menschliche Bedürfnisstufen dar: angefangen bei physiologischen Bedürfnissen (z. B. Nahrung) über Sicherheits- und soziale Bedürfnisse bis hin zu Bedürfnissen nach Selbstwert und Selbstverwirklichung. Wenn auch nicht wissenschaftlich belegt, so kann dennoch intuitiv der Eindruck entstehen, dass zumindest privilegierte Teile unserer Gesellschaft sich (immer noch) in den oberen beiden Stufen aufhalten. Hierzu gehören sicherlich auch zunehmend die Vorlieben zur individuellen Gestaltung der Arbeitsbedingungen, wie bspw. das Arbeiten im Homeoffice.
Wird Unternehmenskultur überbewertet?
Wenn Homeoffice generell funktioniert und von Mitarbeitenden mehrheitlich positiv gesehen wird, steht die Frage im Raum, ob die häufig in Firmen beschworene Unternehmenskultur vielleicht doch überbewertet wird. Zumindest, wenn in dieser Kultur bisher gemeinsame Teamarbeit, das tägliche Miteinander und ein reger sozialer Austausch in Meetings oder in der Teeküche als Erfolgsgrundlage im Vordergrund gestanden haben. In dem Zusammenhang bekannte und in manchen Besprechungsräumen verewigte Sprüche wie "Nur als Team sind wir stark!" könnten in diesem Lichte betrachtet, zumindest ob ihrer Wirkung, überdacht werden. Offen bleibt die Frage, wenn Homeoffice eigentlich funktioniert hat, warum Unternehmen ihre Mitarbeitenden wieder verstärkt ins Büro zitieren wollen?
Selbst die vermeintlich angesagten und zukunftsorientierten Tech-Unternehmen wie Facebook, Apple, Google, Twitter & Co. haben laut übereinstimmenden Berichten von Handelsblatt, manager magazin und Focus zunehmend Schwierigkeiten, ihre Mitarbeitenden wieder ins Büro an den Schreibtisch zu bekommen. Gerade diese Unternehmen galten aber in der Vergangenheit als Vorreiter einer agilen Unternehmenskultur, die vor allem auch durch ein außerdienstliches soziales Miteinander geprägt war. Regelmäßige After-Work Treffen, das institutionalisierte Freitag-Nachmittag-Bier, glamouröse Firmenfeiern, die lauschige Plausch-Ecke, der gemeinsame Lunch, abendliche Team-Koch-Events oder das kleine Kickerturnier zwischendurch – all diese Instrumente zur Mitarbeiterbindung und Verbesserung der Arbeitszufriedenheit wurden von vielen anderen Unternehmen schnell als Vorbild genommen.
Nun scheint es so zu sein, dass diese Errungenschaften nicht ausreichend genug sind, um sie gegen die Möglichkeit, im Homeoffice arbeiten zu können, freiwillig wieder einzutauschen. Hatten diese Instrumente dann überhaupt jemals eine tatsächliche Bindungsfunktion im angedachten Sinne? Letztlich wird jedes Unternehmen diese Frage nur für sich individuell beantworten können. Offensichtlich scheint, dass die (nerven-, zeit- und klimaschonende) Einsparung des Arbeitswegs, das vermeintlich ungestörte und flexible Arbeiten zu Hause sowie eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familienleben durchaus einen höheren Stellenwert genießen. Ob nach Corona das favorisierte Homeoffice nur ein vorläufiger Trend bleibt oder es sich tatsächlich zu einer dauerhaften (digital geprägten) Form einer neuen Arbeitswelt entwickelt, bleibt abzuwarten.
Was das für Unternehmen und unsere Gesellschaft bedeuten kann
Ein im Zusammenhang mit Homeoffice bisher noch nicht erwähnter Aspekt zielt auf Gerechtigkeit ab. Schließlich gibt es Aufgaben und viele Jobs, die nicht mit Homeoffice zu vereinbaren sind. Die Krankenschwester, die Ärztin, der Taxi- oder Busfahrer, der Kellner und die Köchin im Restaurant sind nur einige wenige Beispiele. Dahingegen müssen Programmierer*innen, Buchhalter*innen, Texter*innen, Grafiker*innen, Auftragserfasser*innen oder Call-Center-Agent*innen nicht zwingend täglich acht Stunden in einem Büro am Firmenstandort sitzen. Je nach Unternehmensstruktur (Kultur) kann dies jedoch zu internen streitbaren Diskussionen und zu subjektiv empfundener Ungerechtigkeit bei den Mitarbeitenden führen. Diese Herausforderung müssen Unternehmen im Sinne effizienter Arbeitsprozesse moderieren und für sich individuell gestalten.
Selbst wenn die Digitalisierung laut aktuellem Bitkom-Monitor hierzulande noch ausbaufähig ist und an Geschwindigkeit zulegen müsste, werden sich digitale und damit standortunabhängige Arbeitsbereiche weiterentwickeln. Damit steigen auch die Möglichkeiten, potenziell im Homeoffice arbeiten zu können. Inwieweit sich aus dieser individualisierten Arbeitsform eine zunehmende Entfremdung gegenüber den Arbeitskolleg*innen und eine geringere Identifizierung mit dem Arbeitgeber einstellen, wird sich im Laufe der Zeit zeigen. Mit veränderten Arbeitsformen werden sich nicht nur Kommunikation und Werte, sondern auch die Kulturen in Unternehmen ändern. Zudem werden sich Unternehmen vermehrt fragen, wie viel potenziellen und teuren Büro- und Arbeitsraum sie für ihre Mitarbeitenden noch vorhalten müssen.
Ein Großteil der alltäglichen Dienstleistungsangebote wie z. B. Haareschneiden, Jobs in Hotellerie und Gastronomie oder Tätigkeiten als Verkäufer*in, Pflege- und Reinigungskräfte werden vergleichsweise gering entlohnt. Gleichzeitig entfallen jedoch hierzulande auf diesen Bereich, wie bereits erwähnt, rund 75 % aller Beschäftigungsverhältnisse. Parallel ist u. a. angesichts der Energiekostenexplosion die Tendenz einer Deindustrialisierung (Abwanderung industrieller Produktion ins Ausland) zu beobachten. Nicht nur Dienstleistungsbetriebe müssen aufgrund von Fachkräftemangel entweder schließen oder ihr Angebot deutlich einschränken. Beide Entwicklungen zusammengenommen kann das mittel- bis langfristig bedeuten, dass sich sowohl das potenzielle Nachfragevolumen als auch die Dienstleistungsangebote verringern werden. Dann könnte sich auch die selbstbestimmte Arbeit im Homeoffice erübrigen.
Fazit
Die Möglichkeit, im Homeoffice arbeiten zu können, ist ein Ausdruck des (digitalen) Wandels in der Arbeitswelt. Dabei liegen die Gründe, warum Mitarbeitende zunehmend weniger ins Büro der Firma wollen, womöglich tiefer als auf den ersten Blick erkennbar. Pragmatische Argumente wie das Sparen nutzloser Fahrwege oder die vermeintlich effizientere Arbeitsgestaltung am heimischen Schreibtisch sind stichhaltig. Jedoch scheinen soziales Miteinander vor Ort und in Präsenz oder angewandte Bindungsinstrumente nicht die Bedeutung zu haben, die sich Unternehmen wünschen. Die Bedürfnisse nach freiheitlicher Selbstbestimmtheit und Flexibilität der Mitarbeitenden scheinen schwerer zu wiegen. Da sich die digitalisierte Arbeitswelt jedoch weiterentwickeln wird, werden sich in dem Zusammenhang auch Konventionen, Werte und Kulturen sukzessive anpassen müssen. Das ist insbesondere deshalb eine gesellschaftliche Herausforderung, weil (zunehmend) nicht alle Menschen ein selbstbestimmtes und flexibles Leben führen werden können.
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