Kohlbergs Stufenmodell gliedert sich in drei Ebenen, die jeweils zwei Stufen enthalten. In seinem Modell geht es aber nicht um die Quantität des Wissens über moralische Werte und Normen, sondern vielmehr über die qualitative, individuelle Denkweise über diese. Kohlberg ging davon aus, dass die Stufen aufeinander aufbauen: Die Folgestufe könne also nur erreicht werden, wenn auch die vorherige Stufe durchlaufen worden sei. Den Fortschritt erreiche man durch "Lernen", da sich die kognitiven Strukturen infolgedessen so ausbauen und verfeinern, dass Probleme differenzierter und besser gelöst werden können. Ziel sei es, die höchste Stufe zu erreichen; dies gelinge jedoch nur den wenigsten Menschen. Wie schnell die Entwicklung abläuft, ist individuell. Es ist auch immer möglich, auf einer Stufe stehenzubleiben. Rückschritte seien nach Kohlberg auch möglich, aber sehr unwahrscheinlich. In jeder Stufe stehe das Individuum in einer anderen Beziehung zu sich selbst, den Werten und Normen der Gesellschaft und seinem Umfeld.
Das Stufenmodell des moralischen Urteils
Präkonventionelle Ebene: "Was gilt als richtig?"
Stufe 1: Orientierung an Bestrafung und Gehorsam
Vereinfacht gesagt wird in dieser ersten Stufe das als "richtig" eingestuft, was keine Bestrafung mit sich bringt. Ist man "gehorsam", empfindet man einen gewissen Selbstwert. Das Handeln ist egozentrisch: Interessen anderer Personen sind nicht von Interesse oder werden nicht beachtet. Perspektiven von Autoritäten werden ohne kritisches Hinterfragen einfach hingenommen und als die eigene interpretiert.
Stufe 2: Die instrumentell-relativistische Orientierung
Regeln werden nur dann befolgt, wenn sie auch einen Vorteil für jemanden mit sich bringen. Eigene sowie andere Interessen werden durch das Handeln befriedigt. Es wird erkannt, dass Gerechtigkeit relativ ist: Nicht alles, was in dem Interesse des einen ist, ist auch für den anderen von Interesse.
Konventionelle Ebene: "Mit welchen Gründen ist etwas richtig?"
Stufe 3: Die Orientierung an zwischenmenschlichen Beziehungen der Gegenseitigkeit
Zwischenmenschliche Beziehung gewinnen in dieser Stufe an Relevanz. Ziel einer Handlung ist es, den Erwartungen der Autoritäts- und Bezugspersonen zu entsprechen und somit als "gutes Mädchen/ guter Junge" zu gelten. Es folgen Schuldgefühle, wenn man selbst den Erwartungen nicht gerecht wurde.
Stufe 4: Die Orientierung an Gesetz und Ordnung
Alles das wird als richtig angesehen, was den moralischen Normen der Gesellschaft entspricht. Das Funktionieren und Aufrechterhalten der Gesellschaft wird als Ziel der Handlung angesehen.
Postkonventionelle Ebene
Stufe 5: Die legalistische Orientierung am Sozialvertrag
Moralische Normen werden anerkannt und als verbindlich, aber nicht als unveränderlich angesehen. Es wird sich an einem Gesellschaftsvertrag orientiert: Es gelten die Motive der Gerechtigkeit und der Nützlichkeit.
Stufe 6: Die Orientierung am universalen ethischen Prinzip
Prinzipien der Handlung sind die zwischenmenschliche Achtung. Jede Handlung wird aufgrund von individuellen ethischen Prinzipien evaluiert, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen.
Beispiel für ein Dilemma: Teste dich selbst
Eine der bekanntesten Dilemmata-Geschichten, welche Kohlberg formulierte, war das "Heinz-Dilemma". Dabei geht es um einen Mann namens Heinz, dessen Frau krank ist und die nun im Sterben liegt. Es gibt in der Stadt, in der die beiden wohnen, einen einzigen Apotheker, welcher ein Medikament anbietet, das zur Heilung der Frau beitragen könnte. Problematisch ist: Das Medikament wird weit über seinen Wert hinaus verkauft. Heinz ist nicht bereit und besitzt auch nicht die finanzielle Kapazität, das Medikament für den zehnfachen Preis zu kaufen, den die eigentliche Herstellung kosten würde.
Er bemüht sich, mit dem Apotheker ein Geschäft auszuhandeln, um das Medikament für einen geringeren Preis zu erhalten. Alle Mühe ist vergebens. Heinz schafft es nicht, das nötige Geld zu beschaffen, welches für das Medikament nötig wäre. Aus Verzweiflung und aufgrund der fehlenden Zeit entschließt Heinz sich, das Medikament zu stehlen: Er bricht in die Apotheke ein.
Im Anschluss an die Geschichte wurde gefragt, weshalb und ob Heinz das Medikament hätte stehlen sollen. Zudem wurde eine Beurteilung gefordert: Was ist schlimmer, jemanden sterben zu lassen oder etwas zu stehlen? Wie jede Dilemma-Geschichte enthält auch diese zwei sich nicht vereinbare moralische Normen. Einerseits ist es hier der Wert des Lebens, welcher im Kontrast zu der Straftat des Diebstahls steht. Eine "optimale" Lösung gibt es für die Dilemma-Geschichten nicht; es ging Kohlberg nur darum, die Argumente und Begründung für die gewählte Lösung zu analysieren und daraus eine Struktur zu erkennen.
Kritik an Kohlbergs Theorie
Eine maßgebliche Kritik an seiner Studie war der Fakt, dass er für seine Untersuchungen lediglich maskuline Probanden untersuchte. Die Daten werden dementsprechend oftmals als "nicht repräsentativ" verurteilt. Zudem führten Kritiker*innen auf, dass die moralische Entwicklung nicht immer intellektuell, sondern häufig auch auf habituellen Grundlagen basierend verlaufe.
Des Weiteren beobachteten Kritiker*innen, dass die moralischen Entscheidungen einzelner Personen sich nicht immer in einer Stufe einordnen ließen. Während erste Entscheidungen eines Probanden sich beispielsweise auf der dritten Stufe befanden, konnten sich die darauffolgenden auf einer ganz anderen befinden. Die Entscheidung sei also immer auch kontextabhängig.
Die Moralentwicklung Kohlbergs ist heute noch von hoher Relevanz, da sie sich auch ideal mit kognitiven Entwicklungstheorien verknüpfen lässt. Seine kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils gilt auch heute noch als eine der bekanntesten Theorien zur Moralentwicklung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.