In und um Grafenrheinfeld wächst die Verunsicherung: Wird der Kernreaktor doch länger laufen als bis Ende 2015? Bund und Land weisen derlei Gedankenspiele weit von sich, was aber den Verdacht nur weiter anheizt.
Noch 750 Tage. 18.000 Stunden. 1,1 Millionen Minuten ... Der Countdown für das Kernkraftwerk in Grafenrheinfeld läuft. Ende 2015 wird ein Techniker von Eon auf einen Stecker ziehen und damit dem Atommeiler den Saft abdrehen. Ende der Kernkraft in Franken. Doch den Sekt hat noch keiner kaltgestellt, weder die Grünen noch die Bürgerinitiativen rund um Schweinfurt. Man traut dem Frieden nicht.
"Die große Koalition hält am Atomausstieg fest." - "An der Abschaltung Ende 2015 wird nicht gerüttelt." - "Der Atomausstieg ist und bleibt beschlossene Sache." Das alles klingt ein wenig nach dem Fußballpräsidenten, der felsenfest zu seinem Trainer steht - und ihn folgerichtig am nächsten Tag feuert. Mulmiges Gefühl Ist dieses mulmige Gefühl alleine schon ein Grund, die Worte im Koalitionsvertrag, die Klarstellung von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und das unmissverständliche Bekenntnis der bayerischen Eneergieministerin Ilse Aigner (auch CSU) in Zweifel zu ziehen?
Ja, ist es. Das sagt ausgerechnet ein CSU-Mann, allerdings einer, der nicht nur als Förster ein grünes Mäntelchen trägt: Der Bundestagsabgeordnete Josef Göppel aus dem fränkischen Ansbach gilt als Vordenker der Energiewende. Er ist einer der drei Abweichler der Union, die dem Vertrag mit der SPD nicht zugestimmt haben. Begründung: "Er besiegelt die Abkehr von der Energiewende und öffnet der Atomenergie die Tür", sagt Göppel. Dem Energieportal "Klimaretter" verriet er, die Abkehr vom Atomausstieg sei "das geheime Ziel mancher Verhandlungspartner" in Berlin gewesen. Göppel saß selbst in der Arbeitsgruppe Energie und fokussiert sich in seiner Kritik vor allem auf die Beschränkungen bei der Windkraft. Der bayerische Weg Bedeutet der bayerische Weg (die von Seehofer geforderten größeren Abstände der Windräder von Siedlungen) automatisch Rückenwind für die Kernenergie? Ja und Nein, sagt der Wiesbadener Wirtschaftswissenschaftler Lorenz Jarras. Er ist wie Göppel nicht unumstritten, seine Nähe zu den Grünen weckt Zweifel an der Neutralität. Allerdings schimpft er auch über die Fehler bei der Energiewende schon unter Rot-Grün. Insbesondere der milliardenschwere Ausbau der Netze ist für ihn ein Unfug. Den "Bundesbedarfsplan" für den Netzausbau hätten die Strommultis und die mit ihnen verbandelten Netzbetreiber (Eon = Tennet, 50 Hertz = Vattenfall, Amprion = RWE, Transnet BW = EnBW) mehr oder minder der Bundesregierung diktiert; und dies sicher nicht mit dem Hintergedanken, ihre Macht auf dem Strommarkt mit zigtausenden kleinen Kraftwerksbetreibern zu teilen. Konstruktionsfehler Die neuen Leitungen und die neuen Wind-Regeln zementieren einen fatalen Konstruktionsfehler der Energiewende, fürchtet Jarras: das Ungleichgewicht zwischen Stromproduktion im Norden und dem Verbrauch im Süden. Diese Asymmetrie gefährdet die Versorgungssicherheit - Ende 2015 soll Grafenrheinfeld vom Netz gehen, doch bis dahin werden weder die Verteilungsnetze geknüpft sein noch die Ersatzkraftwerke (Gas) stehen, die bei Produktionsengpässen in die Bresche springen.
Da könnte es als das kleinere Übel erscheinen, die Kernkraftwerke doch ein bisschen länger laufen zu lassen. Der Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, Alfred Gaffal, hat das Tabu angetastet, der Widerspruch der Energieministerin klingt nicht wie ein Sturm der Entrüstung: Bayern werde die Energiewende komplett "neu denken", kündigt Aigner an.