"Stevia könnte der Zucker des 21. Jahrhunderts werden"

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Im Gewächshaus der Universität Hohenheim kultiviert Udo Kienle Steviapflanzen. Foto: p
Im Gewächshaus der Universität Hohenheim kultiviert Udo Kienle Steviapflanzen.  Foto: p

Kein Karies, keine Kalorien und trotzdem supersüß: Die Steviapflanze scheint viele Probleme zu lösen. Seit einem Jahr ist Stevia-Süßstoff in Europa zugelassen, aber bisher gibt es noch nicht viele Produkte. Der Agrarwissenschaftler Udo Kienle von der Universität Hohenheim erklärt, warum das in Österreich anders ist. Kein anderer deutscher Forscher beschäftigt sich schon so lange mit dem Thema.

Seit fast 30 Jahren erforschen Sie Stevia. Haben Sie jetzt, wo das Steviolglykosid zugelassen ist, überhaupt noch etwas zu tun?
Udo Kienle: Och, solche Sachen gehen nie aus. Die Entwicklung muss ja weitergehen: Wir machen Anbauversuche, schauen, wie die Lebensmittelindustrie Stevia vernünftig einsetzen kann. Eigentlich das Gleiche wie vorher.

Industrie, Landwirtschaft − wer hat wirtschaftlich etwas davon, dass Steviolglykosid nun zugelassen ist?
Für die Landwirtschaft in Deutschland ist's schwierig. Die Pflanze wächst hier zwar, aber wir haben keine konstanten Sommer, deshalb sind die Erträge nicht stabil und in der Regel ist kein wirtschaftlicher Anbau möglich. In Südeuropa könnte der Anbau ein Thema sein, aber in Deutschland geht's mehr um die Lebensmittelindustrie.
Limonaden zum Beispiel lassen sich mit Steviolglykosid süßen, aber auch vieles andere. Die EU hat eine Höchstmengenordnung gemacht, da stehen die zugelassenen Lebensmittelarten drin.

Aber es gibt bei uns noch nicht viele Produkte mit Stevia-Süßstoff. Anders in In Österreich: Da wird im Fernsehen dafür geworben und die Pflanze ist viel bekannter.
Gerade in Krisenzeiten sind kluge Unternehmenslenker da vorsichtig. Ich denke, dass die großen Hersteller erst einmal Teil- und Testmärkte bedienen. Danone hat in Österreich zum Beispiel einen Joghurt auf dem Markt, in Deutschland noch nicht. Die testen. Einige Produkte wurden auch schon wieder vom Markt genommen. Das braucht einfach ein bisschen Anlaufzeit. Nächstes Jahr wird es sicher schon deutlich mehr Produkte geben. Von Schwartau gibt es eine Wellness-Marmelade mit Steviolglykosid, Zentis Balance soll einen neuen Namen bekommen - bisher wurden synthetische Süßstoffe in diesem Marktsegment eingesetzt. Marmeladen mit Steviolglykosid sollen, wie man hört, sehr gut im Handel laufen. Bei Marmelade lässt sich der Zuckeranteil auf das technologisch nötige Mindestmaß reduzieren, also auf etwa ein Drittel. Die fehlende Süße kann mit Steviolglykosid ersetzt werden, da reicht ein Kaffeelöffel auf ein Kilo Obst. Man kann den Zucker auch komplett ersetzen, wenn man Pektin für den Geliereffekt und ein Konservierungsmittel zugibt. Bei Gebäck wird's schon schwieriger. Zucker bringt eben immer auch Masse.

Warum ist Stevia überhaupt so süß - und gleichzeitig kalorienarm? Ist es chemisch mit Zucker verwandt?
Steviolglykosid hat chemisch überhaupt nichts mit Zucker zu tun. Es schmeckt halt zufällig süß.

Was ist eigentlich aus den Herstellern geworden, die Stevia als Badezusatz verkauft haben, als es als Lebensmittel verboten war?
Das weiß ich nicht. Aber es gibt nach wie vor Produkte im Handel, die nicht verkauft werden dürften: Nur Steviolglycosid, der chemisch gereinigte Stoff, ist zugelassen. Die Pflanze und die Blätter nicht. Es gibt aber immer ein paar Oberschlaue, die sich um das Lebensmittelrecht nicht kümmern, weil sie ihre Geschäftle machen wollen. Und weil das Lebensmittelrecht in der Bundesrepublik häufig nicht einheitlich vollzogen wird, obwohl es das Lebensmittelgesetz vorschreibt, sind viele auf Wegschauen programmiert.
Es gibt keinerlei Kontrollen, was im Umlauf ist. Wie auch: Und inzwischen gibt es so viele Züchtungen. Ab und zu bringt mir mal ein Student eine Pflanze, die er irgendwo im Handel entdeckt hat - und da sind schon komische Sachen dabei. Da ist schon kräftig gemendelt worden. Bei diesen unkonventionelle Züchtungen kennt keiner die Wirkungsweise. Der Verbraucher hat keine Ahnung, was er da kauft. Deswegen kann man nur raten: Finger davon!

Ist die Pflanze gefährlich?
Die Pflanze ist nicht zugelassen, weil es keine Studien zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit gibt. Zumindest keine nach aktuellen Stand der Technik, wie wir es in Europa verstehen: so dass Labore Richtlinien einhalten müssen. Richtige Studien sind wahnsinnig teuer.
Aber das Wichtigste ist der Verbraucherschutz. Wer in den Supermarkt geht, kann ganz nach seinem Geschmack entscheiden, was er kauft. Und vielleicht nach dem Geldbeutel. Aber er muss sich keine Sorgen machen, dass die Produkte gefährlich sind. Im Nachhinein ist's immer schwer, nachzuweisen, dass dieses oder jenes Zipperlein daher kommt. Denken Sie mal dran, wie lange es gedauert hat, bis anerkannt wurde, das Rauchen krebserregend ist: drei Jahrzehnte!

Es wird immer wieder darauf verwiesen, dass Stevia in Lateinamerika und Asien schon sehr viel länger verbreitet ist als bei uns.
Ja, ja, und dann sind so tolle Indianermärchen im Umlauf - für die es keinerlei historischen Beweis gibt. Aber selbst wenn wirklich schon vor langer Zeit in Paraguay Stevia als Süßungsmittel benutzt worden wäre (de facto besteht erst seit 2005 eine lebensmittelrechtliche Zulassung in Paraguay): Über die Risiken beim Masseneinsatz in einer Industriegesellschaft sagt das nichts aus. Süßstoffe werden heute in der EU in Menge genutzt, die damit nicht vergleichbar ist. Wir müssen einfach warten, bis es untersucht ist.

Warum gibt's die nötigen Untersuchungen nicht? Großkonzerne wie Cargill und Coca Cola waren doch dran, oder?
Ja, die haben die Untersuchung für Steviolglykoside bezahlt, deshalb gibt es ja die Zulassung für Steviolglykoside überhaupt erst. Aber durch die Studien ist bisher nur bewiesen, dass zehn Milligramm Steviolglykosid pro Kilo Körpergewicht keinen toxikologischen Effekt erzeugen. Über alles was darüber liegt, gibt es keine aussagekräftigen Untersuchungen.
Deshalb ist derzeit auch eine reine Diätlimo mit 100 Prozent Süße aus Steviolglykosid nicht möglich. Pro Liter sind nur 240 Milliliter Steviolglykosid zugelassen, das heißt, etwa ein Drittel der Kalorien bzw. des Zuckers wird gespart.
Der Verbraucher hätte gerne eine absolut kalorienfreie Limo, und am besten mit Stevia gesüßt, nicht mit Steviolglykosid. Das wird irgendwann kommen, aber es ist ein mühsames Geschäft. Innovationen fallen nicht vom Himmel. Die letzte wirkliche Innovation, die unsere Ernährung und die Lebensmittel total verändert hat, ist 140 Jahre her. Das war die Masseneinführung des Zuckers. Stevia könnte der Zucker des 21. Jahrhunderts werden.

Die Fragen stellte Natalie Schalk.


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