Petra Oeckler war auf dem Mittelmeer , um Flüchtlinge zu retten. Dabei gerieten die Helfer selbst in Seenot. Sie konnten nicht alle vor dem Tod bewahren.
Eine Odyssee liegt hinter Petra Oeckel aus Ebensfeld. Neun Tage war sie mit der Organisation "Sea Eye" auf dem Mittelmeer unterwegs mit einem umgebauten Fischkutter. Technische Probleme, ein überfülltes Boot, katastrophale Zustände an Bord, Leichen schwimmen im Wasser. Vielen Menschen konnte sie jedoch das Leben retten.
Zehn Tage nach ihrer Rückkehr ist ihr davon zunächst nichts anzumerken. Mit einem Lächeln öffnet sie die Tür. Freunde und Verwandte hätten sich große Sorgen gemacht, erzählt Oeckler mit kräftiger Stimme. Sie alle haben
die Berichte gehört über die Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer, die über das Osterwochenende vor der Libischen Küste selbst in Seenot geraten waren.
Notfall auf hoher See
Das kleine Boot "Sea Eye" hatte zeitweise über 200 Menschen an Bord. Eigentlich sollen die ehrenamtlichen Helfer der gleichnamigen Organisation gar keine Flüchtlinge aufnehmen. Warum sie es doch getan haben? Oeckler blickt nachdenklich aus dem Fenster. "Weil es der äußerste Notfall war", sagt sie.
Zunächst lief aber alles nach "Lehrplan", wie sie sagt. Bei drei Schlauchbooten haben sie die Menschen mit Wasser und Rettungswesten versorgt, einen Notruf abgesendet und gewartet, bis ein großes Schiff zur Rettung kommt.
Sie setzt ihre Brille auf und greift sich vier bedruckte Blätter. Darauf stehen die Eckdaten der Mission. Oeckler hatte auf See das Zeitgefühl verloren, ihre Erinnerungen seien lückenhaft. Deshalb hat die Crew die Ereignisse nochmal rekapituliert und zusammengefasst. "Am ersten Tag hatten wir noch alles im Griff", sagt sie, immer wieder stark gestikulierend mit ihren Händen.
Die Technik fiel aus
Das sollte sich am Karsamstag ändern. Ein großes Holzboot geriet in Seenot. Etwa 750 Flüchtlinge an Bord. "Holz ist das Schlimmste, das passieren kann", erklärt Oeckler. Holzboote seien nie ganz dicht, bekämen leicht Schlagseite. Außerdem könnten Menschen unter dem Deck eingesperrt sein. Die Rettung sei daher glimpflich verlaufen, auch wenn die Sea Eye wieder insgesamt 286 Menschen aufnehmen musste.
Doch dann fiel plötzlich der Stromgenerator aus. "Mit so vielen Menschen an Bord ist das dramatisch", weiß die Lehrerin. Ein deutsches Marineschiff nahm nach über sieben Stunden schließlich die Flüchtlinge vom Fischkutter auf.
Auf dem Heimweg gestoppt
Mit defektem Boot und einer ausgelaugten Crew wollte sich die Sea Eye danach eigentlich auf den Weg nach Hause machen, sagt Oeckler. Doch die Ereignisse überschlugen sich am Ostersonntag. In der Nacht erhielten sie einen Notruf einer anderen Hilfsorganisation, also fuhr die Crew dorthin. "Wir haben deutlich gemacht, dass wir auf der Heimfahrt sind", sagt Oeckler. Deshalb habe die Sea Eye nur unterstützt, beobachtet und am Ende doch wieder 75 Menschen aufgenommen.
Am Vormittag dann ein weiterer Notruf: Ein Schlauchboot könne keine Luft mehr halten und sei im Begriff zu sinken. Etwa 150 Menschen an Bord, schätzt Oeckler. Ihre Stimme wird leiser: "Die Menschen sind in Panik ausgebrochen." Weitere 128 musste das kleine ehemalige Fischerboot aufnehmen. Viele seien unterkühlt gewesen bei rund 15 Grad Wassertemperatur, erzählt sie.
Als sie alle an Bord sind, wird ihr das Ausmaß erst bewusst: "Es waren vorher schon Tote im Wasser. Als das Schlauchboot leer war, sahen wir auch die Toten im Boot". Sie zieht ihre Mundwinkel nach unten. Schluckt einmal und atmet tief durch. Neun oder zehn Flüchtlinge seien dabei gestorben, schätzt sie.
Unter den gerade Geretteten auf der Sea Eye befand sich eine schwangere Frau. Auf etwa Mitte 20 schätzt sie die Helferin und stark unterkühlt. Anfangs sei sie noch bei Bewusstsein gewesen, dann aber schnell kollabiert. 80 Minuten lang habe die Crew versucht, sie wiederzubeleben. Auch Petra Oeckler. Ihre Stimme wird wieder leiser. Sie streicht sich einmal durchs Haar. "Allerdings zum Glück nicht bis zum Schluss."
Wie fühlt man sich nach solchen Ereignissen, die sich über Stunden hinwegziehen? "Man fühlt erstaunlich wenig und spürt gar nicht, dass das alles echt ist", sagt Oeckler. Erst danach kamen die Tränen. Die Crew legte die verstorbene Schwangere in einen Leichensack und bewahrte sie in einer Art Abstellkammer auf.
Katastrophale Zustände an Bord
21 Stunden lang harrten so rund 200 Menschen an Bord der Sea Eye aus. Mehrere Transferversuche zu größeren Schiffen scheiterten aufgrund des zu starken Seegangs. "Wir waren überfüllt bis zum Anschlag. Das Boot war in kürzester Zeit ein Schlachtfeld", erzählt Oeckler, während sie immer wieder sicherheitshalber die Fakten auf dem Papier nachprüft.
Die Crew versorgte die Flüchtlinge notdürftig mit Wasser und Müsliriegel. Viele wurden seekrank und mussten natürlich den menschlichen Bedürfnissen nachgehen. Entsprechend habe das Boot ausgesehen und gerochen, sagt Oeckler.
Die Geretteten seien durchnässt, oft erschöpft und apathisch gewesen, erklärt sie. "Man hat ihnen angemerkt, dass sie das Schlimmste durchgemacht haben." Hauptsächlich junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren seien es gewesen. Nur etwa jede Vierte eine Frau. Viele davon schwanger.
"Wir waren sicher, dass viele eine zweite Nacht bei uns nicht überlebt hätten", erklärt sie. Deshalb habe die Sea Eye letztlich einen Notruf gesendet. Ein Schiff nahm die Flüchtlinge auf und die Sea Eye machte sich auf den Weg zurück zum Heimathafen nach Malta.
Nie wieder raus fahren
"Ich fühle mich allein gelassen von der Politik. Dass so eine wichtige Aufgabe von Freiwilligen gemacht werden muss, ist ein Armutszeugnis", klagt sie. Ob sie noch einmal mit der Sea Eye aufs Mittelmeer fahren wird, könne sie noch nicht beantworten.
"Ich bin jetzt aber noch überzeugter, dass den Menschen dort geholfen werden muss - am besten staatlich organisiert", sagt Oeckler. "Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass wir nie wieder raus fahren müssten."
Mehr Bilder vom Fotografen der Sea-Eye-Mission gibt's
hier.