Am Freitag wurde in der ehemaligen Kronacher Synagoge der Opfer der Reichspogrom-Nacht 1938 gedacht. Die ökumenische Gedenkfeier wurde von Dekanin Dorothea Richter, Regionaldekan Thomas Teuchgräber sowie der BDKJ Kronach gestaltet.
Wie würdest Du Dich fühlen, wenn man heute dein Haus oder deine Wohnung stürmen würde? Wie würdest du dich fühlen, wenn man dich heute deines Lebens berauben würde? - Wie Peitschenhiebe klingen die Fragen von Philipp, Julian, Laura und Madeleine, die an diesem Freitagabend die beklemmende Stille der ehemaligen Synagoge in Kronach durchdringen. Sachlich und ohne erkennbare Gefühlsregung tragen die jungen Leute die Zeilen vor, wobei gerade diese Nüchternheit einem die Gänsehaut über den Rücken jagte.
Diese und weitere Fragen - neun an der Zahl - hatten die Jugendlichen bereits am Tag zuvor mittels großer Banner an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet angebracht. "Wir waren in zwei Aktionen nachmittags und abends unterwegs", erklären Philipp und Madeleine. Die Idee für die Banner-Aktion entstand bei der Anfang Oktober in Teuschnitz abgehaltenen Klausurtagung.
"Wir haben uns Aktionen für das ganze Jahr ausgedacht und wollten den 9. November mit einbeziehen", erklären die Beiden. Die auf den Plakaten aufgedruckten Fragen hätten sich bei der Tagung ergeben.
Als Standorte habe man schwerpunktmäßig die Schulen ausgewählt. So brachte man die Banner an der RS I, am Schulzentrum, am KZG und an der Berufsschule an - aber auch am Landratsamt, bei der katholischen Stadtpfarrkirche, der Nordbrücke, nahe der Norma sowie Am Spital. "Uns geht es darum, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Der 9. November ist ein Tag, der zur deutschen Geschichte dazugehört", meint die 15-jährige Madeleine, die aus Nordhalben kommt. Ähnlich sieht es der drei Jahre ältere Gundelsdorfer. "Es ist wichtig, dass ein solcher Tag nicht in Vergessenheit gerät. Wenn man heute junge Leute fragt, wie es zum Ersten oder Zweiten Weltkrieg gekommen ist, wüssten das viele gar nicht", zeigt er sich sicher.
Madeleine ergänzt: "Das ist einfach Desinteresse. Sie denken, dass es sie nichts mehr angeht. Es war früher und ist für sie abgeschlossen. Dabei kann so etwas wieder passieren."
So sieht es auch Bildungsreferent Andy Fischer: "Unser Geschichtslehrer sagte einmal, dass sich Geschichte innerhalb von 80 bis 90 Jahren wiederholt", erinnert sich Fischer. Mit der Plakataktion wolle man ein Zeichen gegen den Extremismus - allgemein und in welcher Form auch immer - setzen und die Bevölkerung zum Nachdenken bringen. "Obwohl wir ja schon eine der Folgegenerationen sind, bin ich doch der Meinung, dass man Flagge zeigen muss. Menschen sollten sich auf gleiche Augenhöhe begegnen und Probleme in Gesprächen und Diskussionen lösen, aber nicht mit Macht oder unmenschlichen Mitteln", betont er. Leider nehme die Ellbogenmentalität mehr und mehr zu, gepaart mit Machtdominanz. Die Fairness bleibe auf der Strecke.
Er appelliert: "Egoismus ist keine Antwort. Viel sinnvoller ist es, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen."
Gedenkfeier Dekanin Richter verlas den Psalm 22, beginnend mit den Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinen Schreien, den Worten meiner Klage?" So hätten sicherlich auch die Menschen in dieser Novembernacht vor 74 Jahren gedacht. Nach den zunehmenden Ausgrenzungen und Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung, habe die Pogromnacht einen deutlichen Einschnitt markiert. "Öffentlich toleriert, unterstützt und gefeiert hat man Wohnungen und Geschäfte der Juden demoliert, sie beleidigt, zusammengeschlagen, umgebracht oder ins KZ abtransportiert", so die Dekanin.
"Obwohl wir die Opfer nicht persönlich kannten, berühren uns doch ihre Schicksale", meinte Regionaldekan Teuchgräber.
Man stelle sich die Frage, was denn so schlimm an ihnen war, dass man sie derart behandelt hat. Er las eine Erklärung aus dem zweiten vatikanischen Konzil vor, das zur Vorsicht mahnt, wenn Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. "Eine brüderliche und geschwisterliche Haltung gegenüber allen Menschen ist meine Pflicht als Pfarrer", verdeutlichte er.
Er bedankte sich bei den Jugendlichen für die Plakataktion und die Gestaltung der Gedenkfeier. Ausdrücklich begrüßte er dabei, dass es junge Menschen seien, die sich mit diesem Thema befassten. Die BDKJ-Mitglieder trugen nicht nur die Fragen vor, sondern zündeten auch für jede Frage eine Kerze an. Andy Fischer las ein stimmiges Gedicht vor zum Thema "Wehret den Anfängen.
Wunderschön stimmig umrahmt mit meditativer Gitarrenmusik wurde die Gedenkfeier vom zwölfjährigen Benedikt Schindele aus Kulmbach, der die Sing- und Musikschule in Kronach besucht.
Was versteht man unter der "Reichspogrom-Nacht"? "Reichspogrom-Nacht" oder auch "Reichskristall-Nacht" wird die Nacht der nationalsozialistischen Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung vom 9. auf den 10. November 1938 bezeichnet. Sie waren eine vom NS-Regime organisierte Zerstörung von Einrichtungen jüdischer Bürger im Deutschen Reich.
Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust an den europäischen Juden im Machtbereich der Nationalsozialisten mündete.