Die Bewohner des Dorfes leiden unter dem Corona-Stigma. Die Familie, auf deren Feier sich das Virus verbreitet hat, unter Anschuldigungen und Gerüchten. Wie konnte es so weit kommen? Eine Antwort aus Oberbayern.
Hätte die Familie nach der Geburtstagsfeier noch einen Wunsch frei, wahrscheinlich wäre es der, dass wieder Ruhe einkehrt im Dorf. Doch nach dem Corona-Ausbruch auf der Feier zu einem 80. Geburtstag in Welitsch, Gemeinde Pressig, bleibt Ernüchterung auf den Straßen des 350-Einwohner-Dorfes zurück. Kunden kaufen woanders ein. Reservierungen in den Gaststätten werden zurückgenommen. Ja, es wird sogar von einem Fall berichtet, dass ein Termin für einen Auto-Kundenservice geplatzt ist, nur weil der Besitzer aus Welitsch kommt.
Nachdem der FT vergangene Woche über den Fall berichtet hat, werden schnell Stimmen im Internet laut, die einem Geburtstagsgast die Schuld an dem Vorfall geben. Auf Facebook fordern Nutzer eine Strafe für einen Mann, der sich angeblich über Quarantänebestimmungen hinweg gesetzt haben soll, um die Geburtstagsfeier im Vereinsheim zu besuchen. Doch wird in diesem Fall übereifrig ein Urteil gefällt? Stimmen die heftigen Anschuldigungen tatsächlich?
Auf Nachfrage des FT äußert sich das Gesundheitsamt im oberbayerischen Miesbach zu dem Vorfall, der die Sachbearbeiter nun schon seit dem 3. Oktober verfolgt. Sie erklären, dass den 51-Jährigen nur eine geringe Schuld an dem Vorfall trifft. Es sei schlichtweg unglücklich gelaufen.
Laut Aussage des Amtes hat sich der Mann am Donnerstag vor der Feier bei seinem Hausarzt mit Erkältungssymptomen gemeldet. Während der Arzt ihm tatsächlich eine Erkältung diagnostiziert hat und ihn entlassen wollte, bestand der Mann aus Oberbayern darauf, sich auf Covid-19 testen zu lassen.
Dann ereignete sich der erste Fehler. Der Arzt habe vergessen, den Mann darüber zu belehren, dass er sich auch bei einem vorsorglichen Test in Quarantäne begeben müsse, erklärt das Gesundheitsamt Miesbach. Auch die offizielle Belehrung auf Papier habe er nie erhalten. "Eine Aufklärung hat gefehlt", heißt es in der Behörde. Der Mann hat sich auf den Weg nach Welitsch gemacht, ohne zu wissen, dass er seine Wohnung nicht hätte verlassen dürfen, beschreibt das Gesundheitsamt den Vorfall.
Das positive Testergebnis sei am Samstag eingetroffen, erklärt die Behörde. Als die Mitarbeiter den 51-Jährigen am Telefon erreicht haben, sei er direkt nach Miesbach zurückgefahren und habe außerdem so schnell es ging alle Gäste der Feier verständigt. Doch dann sei es bereits zu spät gewesen. Dass er mit purer Absicht und ohne Rücksicht auf Verluste Ansteckungen in Kauf genommen hat, davon kann keine Rede sein, bestätigt das Amt. Vielmehr leide er unter den Folgen, die sein Geburtstagsbesuch ausgelöst hat.
Gerüchte und Anschuldigungen
Dem Pressiger Bürgermeister Stefan Heinlein hört man schnell an, dass ihn das Thema seit Tagen verfolgt. Er steht mit der Familie in Kontakt und wünscht ihnen und dem ganzen Dorf, dass wieder Ruhe einkehrt. Er spricht von einer Stigmatisierung, die gerade stattfindet, die weder die Familie des 80-Jährigen noch sonst jemand so verdient hätte. "Es ist zwar ein ärgerlich Vorfall, aber man soll niemand verurteilen", sagt der Bürgermeister.
Auch das Dorf leidet unter den Folgen der Infektionen. "Es kann doch nicht sein, dass Leute nicht mehr zum Metzger gehen, Reservierungen aufgehoben oder TÜV-Termine abgesagt wird", sagt der Bürgermeister. Welitsch leidet und Gerüchte machen die Runde. Stefan Heinlein empfiehlt, den Behörden zu vertrauen. "Das Gesundheitsamt macht eine großartige Arbeit."
Auch bei den Infektionszahlen hat sich seit vergangener Woche nichts mehr verändert. Im Umfeld der Feier sind sechs Personen an Covid-19 erkrankt, darunter der Gastgeber. Der Besucher aus Oberbayern ist dabei noch nicht mitgerechnet, weil das Landratsamt Miesbach für den Fall zuständig ist. Laut der Pressestelle des Landratsamts Kronach gibt es derzeit bei den sechs Einheimischen keinen kritischen Verlauf. Alle 43 Kontaktpersonen sind zu Hause in Quarantäne.
Negative Tests in Ludwigsstadt
So auch die Besucher des Sportheims des TSV Ludwigsstadt. Wie berichtet, hat eine Frau, die auf der Feier in Welitsch anwesend war, am folgenden Tag den Sportplatz des TSV Ludwigsstadt besucht. 40 Kontaktpersonen kamen daraufhin in Quarantäne, darunter der Vorsitzende des Vereins, Paul Pfeiffer. Doch auch in Ludwigsstadt sowie bei der Gastmannschaft des FC Lichtenfels II liegen bislang ausschließlich negative Testergebnisse vor. Auf die Ergebnisse einer zweiten Testreihe warten die 40 Kontaktpersonen derzeit. Doch von Symptomen ist auch dem Sportvorstand nichts bekannt. Der Vorsitzende vermutet, dass die Besucherin noch nicht lange genug infiziert gewesen war, um andere Besucher anzustecken. Außerdem habe der Verein auch im Sportheim die üblichen Hygieneregeln eingehalten.
Obwohl bei allen 40 Fußballern und Funktionären das erste Testergebnis negativ ausfiel und sie nun auf den zweiten Test warten, bleiben sie in häuslicher Isolation. "Wir sind mit den Regeln absolut einverstanden", erklärt TSV-Vorsitzender Pfeiffer.
KOMMENTAR von Bastian Sünkel
Eine unnötige Hexenjagd
Wer es sich einfach macht, verteilt Schuld. Das hat zwei Vorteile für den Ankläger. Zum einen zeigt er, dass er in einer Situation anders, also besser, gehandelt hätte als der Beschuldigte. Bravo. Zum anderen hat ein sonst nicht greifbarer Missstand plötzlich klare Konturen. In dem Moment, wenn ein Mensch mit dem durch die Pandemie erweiterten Wortschatz als Spreader oder gar als Superspreader bezeichnet wird, bekommt das sonst unsichtbare Virus ein Gesicht. Das Gesicht eines unvorsichtigen Menschen, der angeblich wissentlich gehandelt und aus egoistischen Motiven heraus Verletzte in Kauf genommen hat. Buh.
Schwieriger wird es, wenn man differenziert statt zu urteilen, was zugegebenermaßen in außergewöhnlichen Pandemiezeiten nicht leicht fällt. Dann hilft es zu fragen. Hat der Gast willentlich seine Freunde und Verwandten angesteckt? Ganz klares Nein. Hätte er anders gehandelt, wenn er besser informiert worden wäre? Klares Ja. Natürlich wäre es besser, wenn er sicherheitshalber zu Hause geblieben wäre. Aber das weiß er selbst am besten. Für Belehrungen ist es zu spät. Zudem ist die Wahrheit meist in einem Karton aus Gerüchten verpackt. Wer weiß, wie es wirklich war?
Bestes Beispiel dafür ist die angebliche Superspreaderin von Garmisch-Partenkirchen. Vor zwei Wochen erschien ein Artikel in Die Zeit, der auch ihre Schuld relativierte. Womöglich hat sie nur zwei Personen angesteckt. Doch auch das spielt keine Rolle, weil es eben nicht darum geht, anzuklagen.
Statt Schuld zu verteilen, ist es wohl besser, gesunde Schlüsse aus dem unglücklichen Ereignis zu ziehen. Wie verhalte ich mich, wenn ich Symptome verspüre, aber nicht unter Quarantäne stehe? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich nicht nur unwissentlich Menschen anstecke, sondern zusätzlich noch als Schuldiger am Pranger stehe? Gerade in der Pandemie fordert die Gesellschaft Solidarität ein. Das muss auch dann gelten, wenn es nicht einfach ist, Gemeinschaft zu zeigen, wie mit einem Menschen, der ohne Absicht einen Fehler begangen hat. Eine Hexenjagd besiegt jedenfalls kein Virus.