Acht Monate vor dem Mauerfall macht sich Karlheinz Zapf in Sichelreuth nach einem Skatturnier auf zu fliehen. Bei Mitwitz überquert er die Grenze. Dokumentiert hat die Geschichte Gerhard Schätzlein in einem Buch über DDR-Flüchtlinge.
Sichelreuth/RoßlachDie Fluchtgeschichte von Karlheinz Zapf beginnt mit einer Niederlage beim Skat. Angetrunken, aus Frust ob des schlechten Ergebnisses beim Skatturnier im thüringischen Gefell, machten sich Karlheinz Zapf, 37, und Kurt Motschmann, 38, am Abend des 5. Februar 1989 auf den Weg nach Hause - im Gepäck einen Plan. Zuhause, das ist Sichelreuth im Süden des Landkreises Sonneberg in Thüringen. Rund sieben Kilometer von Mitwitz entfernt.
Auf jeden der Männer warteten zu Hause Probleme, beide hatten Streit mit ihren Frauen, Zapf war zudem verärgert darüber, dass das Landratsamt ihm Baumaterial für seinen Wohnhaus-Anbau verweigert hatte.
An jenem Abend also gingen die Männer nur kurz nach Hause, zogen sich Gummistiefel und Winterjacke an, trafen sich vor Zapfs Haus - Motschmann hatte seinen Sohn dabei - und liefen los.
Durch Sichelreuth in Richtung Süden, am Ufer der Föritz entlang, in Richtung Grenze.
Es war neblig an diesem Abend. Die Leuchtrakete, die Karlheinz Zapf 500 Meter vor dem Stacheldraht auslöste, als er gegen einen über den Weg gespannten Draht stolperte, fiel keinem der Turmwächter auf.
Sie rannten. Rannten entlang des Flußlaufs der Föritz, der in Mitwitz in die Steinach mündet, erreichten nach 900 Metern den Zaun der ehemaligen MS66 , ohne Hilfsmittel überstiegen sie ihn. Drei Kilometer von Mitwitz entfernt betraten sie erstmals den Boden der BRD.
In Mitwitz angekommen, stolperten sie schmutzig und nass in die einzige Wirtschaft, die noch offen hatte. Sie wurden freundlich empfangen und notdürftig eingekleidet.Wenig später saßen sie neben der Polizei bei Bier und Brotzeit und wurden das erste Mal zu ihrer Flucht befragt.
Über Ludwigstadt wurden sie schließlich nach Gießen gebracht - Fahrkarte und Taschengeld inklusive. Eine Woche wurden sie befragt, dann durften sie wählen, wo sie leben wollen. Ihre Wahl fiel auf Coburg/Kronach. Sie wurden Roßlach in der Gemeinde Wilhelmsthal zugewiesen. Die Motschmanns zogen weiter nach Coburg, Karlheinz Zapf blieb und wurde Werkzeugmacher. Nach der Wende kam die Frau zu ihm, 1993 zogen sie zurück nach Sichelreuth. Zapf arbeitete weiter im Westen als Montagearbeiter. Dieses Jahr geht er in Rente.
Die Fluchtgeschichte von Karlheinz Zapf, wie Gerhard Schätzlein sie in einem Buch festgehalten hat, beginnt mit einer Grenztruppen-Tagesmeldung, Aktenzeichen GT 17184.
"Die BdVP (Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei/Anm. d.
Red.) Suhl informierte am 6.2.89 um 1.15 Uhr, dass der 36-jährige Einrichter im VEB GKS, Karl-Heinz Zapf aus Sichelreuth, Kreis Sonneberg bei einem Bürger in Neuhaus angerufen und diesen informiert habe, dass er in der BRD, in Mitwitz, Kreis Kronach, angekommen sei. Die daraufhin eingeleiteten Überprüfungen führten am 6.2.89 zur Feststellung des Grenzdurchbruches bei Föritz. Der Täter überwand den GSSZ (Grenzsignalzaun/Anm. d. Red.) ohne Auslösung am Sperrwerk Föritz, indem er das Türschloss mittels Bolzenschneider aufschnitt. Vater Kurt Motschmann und sein Sohn Kai aus Neuhaus-Schierschnitz sowie eine unbekannte Person versuchten am 5.2.89 um 21 Uhr, die Sperranlagen im Bereich des Wassersperrwerks des Flusslaufes Föritz zu durchbrechen, was misslang. Der Vater, Elektriker, war 37, der Sohn, Schüler, 16 Jahre alt. Ermittelt wurde dies durch eine Spezialkommission der BV (Bezirksverwaltung/Anm. d.
Red.) des MfS (Ministerium für Staatssicherheit/Anm. d. Red.) Suhl.""5. Februar 1989", murmelt Gerhard Schätzlein, im Hintergrund ist das Scrollen einer Computermaus zu hören. 10 000 Datensätze hat Schätzlein auf seinem PC gespeichert. Drei Jahre hat er in den Stasi-Archiven der Republik recherchiert, herausgekommen sind Hundert Fluchtgeschichten, zusammengefasst in einem Buch mit dem Titel: "Flucht aus der DDR. 1950 bis 1989".
Gerhard Schätzlein ist 78 Jahre alt, pensionierter Lehrer, er wohnt in Willmars im unterfränkischen Landkreis Rhön-Grabfeld, direkt an der Grenze zu Thüringen. Die Fluchtgeschichten sind sein drittes Buch.
Die Recherchen dazu begannen im Militärarchiv in Freiburg im Breisgau. Zunächst auf Verdacht habe er dort die Tagesmeldungen der Grenztruppen durchstöbert.
In diesen Berichten ist aufgeführt, wo die Flucht stattgefunden hat, welche Schwierigkeiten es in der Gruppe gab, wo Selbstmorde stattgefunden haben.
Ein Vorteil der Tagesmeldungen: die Namen und Daten der Betroffenen sind dort verzeichnet. Damit kann Schätzlein bei der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen (BStU) in Gera nachfragen, ob dort für die betroffenen Personen Einträge vorhanden sind. Gibt es solche Dokumente, werden zunächst die personenbezogenen Daten geschwärzt, kopiert und für Schätzlein einsehbar. So auch im Fall von Karlheinz Zapf:
"INFORMATION über einen ungesetzlichen Grenzübertritt DDR - BRD durch drei Personen aus dem Bezirk im Raum Sichelreuth, Krs. Sonneberg.
Am 5. 2.
1989 in der Zeit zwischen 22.00 und 23.30 Uhr begingen Karl-Heinz Z., 36, Einrichter im VEB EKS, Neuhaus-Schierschnitz, verheiratet/2 Kinder, Kurt M., ein 37-jähriger Arbeitsvorbereiter im VEB EKS, Neuhaus-Schierschnitz, verheiratet, l Kind und dessen Sohn Kai, 17, Schüler der 10. Klasse, OS Neuhaus-Schierschnitz im Raum der Ortschaft Sichelreuth einen ungesetzlichen Grenzübertritt DDR - BRD. Die Untersuchungen ergaben:
Die beiden Männer nahmen an einem Skatturnier in der Gaststätte "Bätz" in Gefell/Krs. Sonneberg teil. Anschließend hatten sie die Absicht, noch zum Karneval zu gehen. Beide befanden sich bereits zu diesem Zeitpunkt in einem angetrunkenen Zustand.
Gegen 21.00 Uhr betrat Kurt M. die eheliche Wohnung, wo es zwischen ihm und seiner Ehefrau
zu einer Auseinandersetzung kam, da er angetrunken war und die Wohnung wieder verlassen wollte.
Im Ergebnis dar Auseinandersetzung verließ er kurz nach 21.00 Uhr die Wohnung und begab sich mit Z. in Richtung der Hauptstraße nach Sichelreuth. Der sich in der Wohnung aufhaltende Sohn Kai folgte seinem Vater mit dem Ziel, ihn nach Hause zurückzuholen.
Die Genannten näherten sich von der Ortschaft Sichelreuth kommend in südlicher Richtung entlang dem Flußlauf der Föritz dem Sperrbauwerk im Bereich des GSSZ. Mittels eines mitgeführten Bolzenschneiders öffneten sie gewaltsam ein Vorhängeschloß an der Arretierungsstange, die die Gitterelemente gegen ein unbefugtes Hochschieben sicherte und entfernten die Stange. Da das Sperrbauwerk nicht in die Signaleinrichtung des GSSZ eingebunden war, gelangten sie unbemerkt durch ein von ihnen hochgeschobenes Gitterelement in den Schutzstreifen.
Entlang des Flußlaufes der Föritz erreichten sie den Zaun der ehemaligen MS 66, überstiegen diesen ohne Hilfsmittel und
begaben sich durch die Föritz auf BRD-Territorium."
"Wenn einer sich an der Grenze auskannte, so wie Zapf, gab es auch in den 70er-Jahren noch Möglichkeiten, über die Grenze zu kommen." Bei seinen Recherchen haben Schätzlein vor allem die Fluchtgründe interessiert. Zwei Dinge haben am Schluss alle Geschichten geeint. Einerseits das Gefühl: Das kann nicht alles gewesen sein. Andererseits musste zu dem Gefühl eines allgemeinen Unbehagens, so drückt Schätzlein es aus, noch etwas hinzukommen, damit eine Flucht gewagt wurde: ein persönlicher Anlass. Etwa: Alkohol, Scheidung, Arbeitslosigkeit. Ob er selbst geflohen wäre, hätte er in der DDR gelebt? "Ich wäre, glaube ich, nicht so weit gegangen, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hätte."
Anm. d. Red.:Leider war es nicht möglich mit Karlheinz Zapf persönlich für den Artikel zu sprechen. Die Geschichte ist so dargestellt, wie Schätzlein und Bernd Langbein sie in Gesprächen und nach Aktenlage rekonstruierten.