Eine üble Geschichte

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Carla, Jonah und Mutter Diana sind gerüstet: Bei längeren Autofahrten haben sie immer Tüten, Papiertücher und Ersatzkleidung dabei, denn alle drei leiden unter Reiseübelkeit.
Foto: Daniela Röllinger

Für Reisekranke ist die Fahrt in den Urlaub eine Tortur. Vor allem Kinder sind betroffen.

Auf dem Weg nach draußen schnappt sich Jonah die Küchenrolle. Die muss mit, ebenso wie Tüten und Ersatzkleider. Dem Vierjährigen wird es schlecht, wenn er im Auto fährt. Er leidet unter Reisekrankheit – ebenso wie seine Schwester und seine Mutter. Fast jede Fahrt ist eine Strapaze für alle Beteiligten.

Die Sommerferien beginnen und damit steht der Höhepunkt des Jahres vor der Tür: der lang ersehnte Urlaub. Es geht in die Berge, in fremde Länder, ans Meer. Allein der Gedanke daran löst Vorfreude aus – zumindest wenn man nicht an Kinetose leidet. Doch gerade bei Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren tritt die Reisekrankheit häufig auf.

Kinetose ist ein Bewegungsschwindel. Er entsteht durch fehlerhafte Verarbeitung von Sinneseindrücken durch das Gehirn, erklärt der Kitzinger Kinderarzt Dr. Stephan Küntzer. „Die Augen und das Gleichgewichtsorgan nehmen gleichzeitig Bewegung und Stillstand wahr.“ Dadurch gerät der Körper in Stress. Was sich durch mehrere Symptome äußert: Es kommt zu vermehrtem Speichelfluss, Gähnen, Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen, dann zur klassischen Übelkeit und zum Erbrechen.

Studien zufolge sind fünf bis zehn Prozent aller Menschen sehr empfindlich für das Auftreten von Kinetose, Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

„Wenn Jonah anfängt zu gähnen, geht es los“, weiß Diana Schmidt. Sie kennt die Symptome genau. Nicht nur, weil auch ihre ältere Tochter Carla betroffen ist, sondern weil sie selbst unter Reiseübelkeit leidet. „Als Kind haben meine Eltern mir immer einen gelben Eimer zwischen die Füße gestellt und eine Zewarolle in die Hand gedrückt“, weiß sie noch genau. Das Bild hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. Es zeigt, wie belastend die Reiseübelkeit für die meisten Betroffenen ist.

Jonah ist noch relativ klein. Er steht Reisen noch unbekümmert gegenüber. Wie die Fahrt kürzlich in den Urlaub war? „Langweilig“, sagt der Vierjährige. Die achtjährige Carla schaut schon skeptischer. „Ich fahr' nicht gern in Urlaub“, sagt sie. Gut, dass Freundin Nele dabei war. Die beiden haben geredet, Musik gehört, im Zug gespielt, Geschichten erfunden. „Das hat gut geklappt.“

Zumindest bis zum Flugzeug. Da wurde es dann schon schwieriger. Die Sitzeinteilung war ungünstig, die Mutter saß zwischen den Kindern, der Vater weit entfernt. „Den Kindern rechts und links von mir Tüten hinhalten und mir dazwischen ist selber schlecht, das brauch' ich erst mal nicht mehr“, sagt Diana Schmidt rückblickend.

Die große Clique, mit der die Schmidts unterwegs waren, weiß, dass drei der vier Familienmitglieder reisekrank werden. Man trifft entsprechende Absprachen. Am Urlaubsort mit Leihautos in Kolonne fahren geht zum Beispiel nicht. „Wir halten gefühlsmäßig in jedem Dorf an“, erzählt die 36-Jährige. Vor Ausflügen schaut sie sich die Route auf der Karte an. Sind die Straßen kurvig, überlegt die Familie sich gut, ob sie überhaupt mitfährt.

Einfach losfahren, das geht sowieso nicht. Wer reisekrank wird, muss planen. Das fängt schon bei der Ernährung an. „Wichtig ist vor allem: nur leichtes Essen vor der Fahrt“, rät Dr. Stephan Küntzer. Fettiges sollte vermieden werden. So gibt es bei den Schmidts zum Beispiel nie Milch zum Frühstück, auch nicht zuhause, denn Carla fährt mit dem Bus zur Schule. Auch vor Ausflügen mit dem Ferienpass oder bei längeren Fahrten im Rahmen von Kindergeburtstagen achtet die Mutter genau darauf, was ihre Kinder essen und trinken. Zur Linderung rät Dr. Küntzer zu Ingwer, pur gekaut oder als Tee, zu Pfefferminzpastillen oder Pfefferminztee.

Während der Fahrt sollten Betroffene nicht nach unten schauen, aufs Handy oder auf ein Buch, und auch nicht aus dem Seitenfenster. Man sollte den Blick nach vorne auf die Straße richten. „Das hilft dem Gehirn oft, die Sinne in Einklang zu bringen“, so der Arzt. Entlastung bringe auch ein ruhiger Fahrstil mit gleichmäßigem Tempo, ohne starkes Abbremsen oder Beschleunigen.

„Im Auto vorne sitzen ist am besten“, bestätigt Diana Schmidt. Was natürlich nicht alle drei betroffenen Familienmitglieder gleichzeitig tun können. Auch dass alle im Zug in Fahrtrichtung oder im Flugzeug am Mittelgang über der Tragfläche sitzen, sei nicht immer machbar. „Das interessiert die Fluggesellschaften nicht“, so ihre Erfahrung. Dabei wäre es hilfreich, denn muss sich ein Reisekranker tatsächlich übergeben, ist das nicht schön, weder für den Betroffenen noch für die Leute daneben. „Das riecht ja.“ Eine sehr unangenehme Situation, weiß Diana Schmidt.

Die Buchbrunnerin arbeitet in einer Apotheke. Aus Gesprächen mit Kunden weiß sie, dass die Übelkeit sich oft verwächst – und auch ihrer Tochter wird inzwischen nicht mehr ganz so oft schlecht. Bei ihr selbst war die Reisekrankheit über Jahre verschwunden und kam erst nach der Schwangerschaft wieder. Von Berufs wegen, aber auch aus eigener Erfahrung kennt Diana Schmidt viele Tipps und Tricks gegen Kinetose. Ihrer Tochter gibt sie vor längeren Fahrten Kaugummis mit, die sie einnehmen kann, wenn ihr übel wird. Auch sie selbst greift darauf zurück. „Und mir hilft es, kalte Cola zu trinken.“ Es gibt homöopathische Mittel wie Globuli oder Tropfen, die, so Dr. Küntzer, auch in Wasser aufgelöst gegeben werden können. „Auch Medikamente stehen zur Verfügung“, erklärt der Arzt. „Sie sollten aber aufgrund der möglichen Nebenwirkungen vor allem bei Kleinkindern nur vorsichtig und sparsam eingesetzt werden.“ Akupressur könne ebenfalls zur Entspannung beitragen. Dabei werden das innere Handgelenk und der Daumenballen massiert.

Wichtig sei es, die Kinder nicht zu schimpfen, sondern möglichst entspannt mit der Situation umzugehen. Für Diana Schmidt ist das selbstverständlich – zumal sie ja selbst weiß, wie hilflos man ist, wenn einem übel wird. „Zu schimpfen würde es nur noch schlimmer machen.“ Besser ist es, sich darauf einzustellen, dass es auf der Fahrt oder beim Flug Probleme geben könnte. Sie rät dazu, regelmäßige Pausen einzulegen, wenn möglich für frische Luft zu sorgen, Tüten bereitzuhalten und Ersatzklamotten einzupacken. „Und nie das gute Kleid schon auf der Fahrt zum Familienfest anziehen.“ Sonst bleibt das Fest womöglich in übler Erinnerung.