Streitgespräch: Welche Lehren lassen sich aus der Corona-Krise für die Pflege ziehen?

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Barbara Becker, hier im Gespräch mit der Geschäftsführerin der Caritasgemeinschaft, Claudia Hauck, kritisiert die Arbeit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern und des Medizinischen Dienstes der ...
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Jochen Keßler-Rosa blickt nachdenklich auf die Entwicklungen der letzten Wochen. Er spricht von einem „Schwarze-Peter-Spiel“ zu Lasten der Pflegebedürftigen.
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Landkreis Kt Der eine ist ist Sprecher der Diakonie in Unterfranken und Geschäftsführer in Kitzingen, die andere ist Politikerin und Mitglied der bayerischen Landessynode. Der eine will die medizinische Betreuung in Pflegeheimen verbessern, die andere auch. Das Interview mit Jochen Keßler-Rosa und Barbara Becker zeigt: Auch wenn die Ziele die gleichen sind, ist der Weg oftmals doch ein anderer.

Herr Keßler-Rosa, Sie hatten sich vor ein paar Wochen an die Öffentlichkeit gewandt und beklagt, dass die Politik die Pflegekräfte „medizinisch am ausgestreckten Arm verhungern lässt“. Hat sich etwas verbessert?

Keßler-Rosa: Nicht wirklich. Es sind anfangs keine Materiallieferungen bei den Pflegeeinrichtungen angekommen. Träger wie die Diakonie oder die Caritas und die AWO mussten diesen Mangel durch eigene Aktivitäten kompensieren.

Becker: Diese Krise macht sichtbar, welche Mängel es in unserem System gibt. Die Vorratshaltung von Schutzkleidung und Masken ist allerdings die Aufgabe der Einrichtungen und nicht der Politik. Ich führe täglich Telefonate mit Leitern von Pflegeheimen und weiß, dass es große Unterschiede gibt. Manche sind auch schon in den ersten Wochen der Corona-Situation gut zurecht gekommen, andere hatten nur Vorrat für ein paar Tage. Da hat unser Bayerisches Gesundheitsministerium dann die Beschaffung und Verteilung des Materials für die Krankenhäuser und Pflegeheime übernommen.

Keßler-Rosa: Wissen Sie, wie schwer es ist, in diesen Zeiten an Material zu kommen? Und was das kostet? Die Produktion ist nach und nach ins Ausland abgewandert. Das ist auch ein Versäumnis der Politik.

Becker: Deshalb haben wir im Ausschuss Gesundheit und Pflege des Bayerischen Landtags schon im März 2019 die Forderung aufgestellt, die Produktion von medizinischen Produkten und Medikamenten wieder nach Deutschland zu holen. Es gibt diesen Maßnahmenplan. Corona kam uns zuvor.

Fühlen Sie sich von der Politik allein gelassen, Herr Keßler-Rosa?

Keßler-Rosa: Ja, klar, aber Politik ist mir zu allgemein. Hier sind es besonders die medizinischen Institutionen, also Gesundheitsämter, Medizinische Dienste und auch Kliniken. Alle geben uns Anweisungen und stellen Forderungen, die oft nur mit medizinischer Kompetenz erfüllbar sind oder mit einer viel besseren Personalausstattung und Material. Und am Ende stehen wir dann in der Kritik. Das ist unfair und ein Schwarzer- Peter-Spiel zu Lasten der Pflegebedürftigen.

Wie lässt sich das ändern?

Keßler-Rosa: Das gegenwärtige Hausarztsystem ist meiner Meinung nach nicht geeignet, um die medizinische Betreuung in Pflegeeinrichtung zu gewährleisten. Bewohner von Pflegeheimen finden oft keinen geeigneten Hausarzt, der in der Lage ist, zusätzliche Patienten aufzunehmen.

Becker: Wir müssen in einigen Punkten sicher nachsteuern, aber eines sollte uns beim Blick in die Welt auch klar sein: Wir sind und waren unendlich besser gerüstet für diese Krise als andere Länder.

Dennoch: Wo würden Sie nachsteuern?

Becker: Ich bin für ein Mehr an medizinischer Fachkompetenz in den Pflegeheimen. Ich bin eindeutig für eine Reduzierung der Dokumentationspflicht. Und ich bin für eine bessere Vernetzung zwischen allen Beteiligten.

Keßler-Rosa: Die Abstimmung mit den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung hat sicher Verbesserungspotenzial.

Becker: Die Kassenärztliche Vereinigung (KVB) hat in der Krise ihre Fachkompetenz nicht gerade unter Beweis gestellt. Um es mal vorsichtig auszudrücken.

Das heißt?

Becker: Wenn sich die Ärzte selber verwalten wollen, dann sollen sie es tun. Aber es kann nicht sein, dass die erste Frage der KVB ganz zu Beginn der Krise, auf die Vergütung abzielt. Die Altenheime befanden sich in großer Not und wir haben von der KVB gehört, dass man erst mal über die Vergütung sprechen müsse. Die Krisenstäbe haben zwar Ärztinnen und Ärzte für die Versorgung von Pflegeheimen eingeteilt. Die Pflegeheime wurden aber nicht informiert. Wen sollten sie nun einlassen und wen nicht? So geht das nicht.

Wie stellen Sie sich das künftige Versorgungssystem vor?

Keßler-Rosa: Die intensive Zusammenarbeit zwischen Pflegepersonal und Ärzten ist durch nichts zu ersetzen. Viele Hausärzte sind gute Partner der Pflegeheime. Aber es gibt auch Lücken. Und die müssen wir füllen. Beispielsweise durch einen Pool an speziell ausgebildeten Ärzten.

Becker: Ich sehe im Hausarztmodell durchaus Vorteile. Die Bewohner haben auf diese Art und Weise einen Arzt ihres Vertrauens, der sie im Idealfall auch im Pflegeheim betreut. Dieses System würde ich nicht in Frage stellen. Gleichzeitig lehrt uns diese Krise, einen Plan B zu erstellen. Im Notfall kann ich mir einen Pool an Versorgungsärzten für die Pflegeheime gut vorstellen.

Keßler-Rosa: Die Konzentration auf Mediziner, die eine Einrichtung mit ihren Bewohnern und dem Personal gut kennen, führt dazu, dass die Qualität in der Versorgung deutlich steigt. Die gesamte Kommunikation wird dadurch deutlich vereinfacht.

Der Ruf nach einer besseren Bezahlung für das Pflegepersonal wird immer lauter.

Keßler-Rosa: Zurecht. Diese Menschen leisten ja nicht nur in Krisenzeiten Außergewöhnliches.

Becker: Viele meiner Familienangehörigen arbeiten in der Pflege. Sie spiegeln mir Eines: Wichtiger als die Bezahlung sind ihnen die Achtung und der Respekt der Bevölkerung. Und natürlich die Arbeitsbedingungen. Immer auf Abruf da sein, im Drei-Schicht-Betrieb tätig sein, das ist auf Dauer körperlich und psychisch belastend.

Wie lässt sich das ändern?

Becker: In dem wir den Verwaltungsaufwand massiv herunterfahren. Warum muss eine Pflegekraft ankreuzen, ob sie ein Medikament als Kapsel oder als Tablette verabreicht hat? Wenn sich der Medizinische Dienst der Krankenkassen nur auf Kontrolle beschränkt und nicht endlich gute Beratung bietet, würde ich ihn abschaffen. Da hat sich über die Jahre ein bürokratisches Monster etabliert mit mehr als 1400 Mitarbeitern in Bayern. Diese Fachkräfte wären in der Pflege besser aufgehoben als in der ständigen und peniblen Prüfung von formalen Qualitätsstandards.