Es war auch diese Differenz, die Christiane Schwenzer aufgeschreckt und die Augen geöffnet hat. Schwenzer sitzt im Nebenzimmer ihres Fachgeschäfts für Lederwaren in der Kitzinger Innenstadt, Rechner und Drucker sind eingeschaltet. Es ist 18 Uhr vorbei, normalerweise hätte sie jetzt Feierabend. Aber vor fünf Jahren hat sie damit angefangen, ihr Reisegepäck und ihre Rucksäcke auch auf „virtuellen Marktplätzen“ wie Amazon oder eBay anzubieten. Seit April 2014 betreibt sie ihren eigenen Onlineshop. Zeit, Geld und Personal hat sie dafür investiert. Aber was sollte sie anders machen? Die Kunden kommen ja kaum noch in die Stadt. Sie muss sie jetzt auf anderen Wegen erreichen.
Als ihre Eltern den Laden vor gut 35 Jahren von Franz Frisch übernahmen, gab es in der Umgebung alles zu kaufen, was es zum Leben brauchte. Die grüne Wiese war noch ein Ort der Erholung, und die Menschen kamen auf ihrer Einkaufstour zwangsläufig am Geschäft von Schwenzers Eltern vorbei. Es war die Zeit, als die Deutschen ihr Wirtschaftswunder feierten und sich ein Vollsortimenter wie Storg rund 170 000 Artikel auf zwei Etagen leisten konnte.
Als Storg im November 1964 am Stadtgraben seine erste Filiale außerhalb von Amberg öffnete, war dieses Haus auch architektonisch ein Ausdruck von Zukunftslust. Auf die Rundbogen-Fassade des alten Capitol-Kinos hatten die neuen Besitzer ein futuristisch anmutendes Wabenmuster geklebt. Im Kaufhaus Storg hatten Kinder ihr erstes Rolltreppenerlebnis, es gibt bis heute keine zweite Rolltreppe in der Stadt. Das Kaufhaus weckte und stillte Sehnsüchte: ob es um den Regenschirm ging oder um den Einbauschrank, ob ein Hochzeitsanzug gesucht wurde oder ein Füller. Das Kaufhaus war Anlaufstation für alle Lebenslagen, befriedigte die Wünsche aller Einkommensschichten. Da passte es ins Bild, dass sich die RAF für ihren ersten Anschlag auf das System ein Kaufhaus suchte, 1968 in Frankfurt/Main. Dass zwanzig Jahre später ein Mann namens „Dagobert“ eine Kaufhauskette erpresste und die ZDF-Kaufhaussaga „Der große Bellheim“ noch 1993 zehn Millionen Menschen vor die Fernseher lockte.
All die Jahre war Storg in Kitzingen ein umsatz- und ertragsstarkes Haus gewesen – zum Verhängnis wurde ihm die Insolvenz der gesamten Kette im Jahr 2000. Unabhängig davon gab es schon in den achtziger Jahren erste Warnzeichen. Für Thomas Storg begann die Misere damit, dass Kommunen beste Innenstadtlagen in Fußgängerzonen verwandelten und am Ortsrand Gewerbegebiete auswiesen. Eine unheilvolle Mischung braute sich da auf einst so grünen Wiesen zusammen. Denn zu den wachsenden Sortimenten der Baumärkte und Discounter kamen grenzenlose Mobilität in den Familien durch ein zweites oder drittes Auto und jede Menge kostenloser Parkplätze. Das ganze Land geriet in eine Aufbruchsstimmung, auf die viele Innenstädte zu spät oder überhaupt nicht reagierten – einige bis heute nicht.
Thomas Storg hat reagiert – „zum Glück“, wie er heute sagt. Anfang 2005, fast vier Jahre nach Wiedereröffnung des Kaufhauses, zog er sich aus dem Erdgeschoss zurück, 1300 Quadratmeter, die heute von Filialen des Textileinzelhändlers NKD und der Drogeriemarktkette Rossmann angemietet sind. Storg, einst Herr im Haus, nun ebenfalls Mieter, richtete sich mit Markenmode für Damen und Herren auf 1000 Quadratmetern im ersten Stock ein.
Ein Unternehmensberater hatte ihm damals den Tipp gegeben, dass Textilien in Kitzingen das Sortiment mit den besten Aussichten sei; und so erfand sich der in der Münchner Stadtsparkasse ausgebildete Bankkaufmann, der später bei den Galeries Lafayette in Paris und bei der Woolworth Company in den USA Karriere als Einkäufer und Logistiker machte, mal wieder neu.
Fragt man ihn, warum er die Karriere abgebrochen hat, noch bevor sie richtig begonnen hatte, fällt die Antwort überraschend simpel aus: „Wenn Sie jahrelang in Großstädten zu Hause sind, genießen Sie die Kleinstadt.“ Bei aller Weltläufigkeit ist Storg, Spross einer Amberger Kaufhausfamilie, Traditionalist geblieben, dem es bei der Globalisierung zu schnell und bei der Innenstadtentwicklung zu langsam geht. Den der digitale Kaufrausch mancher seiner Mitmenschen befremdet und der Kollegen, die am Samstag, Punkt 13 Uhr, die Rollläden runterlassen, spitz als „Handelsfossilien“ bezeichnet.
Wie er da sitzt und redet auf einer schwarzen Ledercouch in einem zweckmäßig eingerichteten Büro mit Blick hinunter zur Straße, macht Storg nicht den Eindruck, einen Trend oder eine Entwicklung verschlafen zu haben. So wie der Kitzinger Stadtrat, dem er vorwirft, mehr und mehr Märkte an der Peripherie zugelassen und so die Seele der Innenstadt verramscht zu haben. Im Jahr 2002 hatte sich der Stadtrat ein 25 000 Euro teures Entwicklungskonzept geleistet. Eine der Kernaussagen war: „Zentrumsrelevante Sortimente“ sollten nur noch in Ausnahmefällen auf der grünen Wiese angesiedelt werden. Dennoch wuchs auch in der Zeit danach das Angebot für Nahrungs- und Genussmittel, Papier und Schreibwaren, Drogerieartikel oder Textilien außerhalb der Altstadt. Der Kaufkraftverlust für die Händler in der City, so rechnet Storg vor, gehe in die Millionen.
Einen Teil der Umsatzeinbußen könnte er über Verkäufe im Internet wettmachen. Aber er will nicht Teil eines anonymen Mediums sein, für das er viel Geld vorschießen müsste; er könnte neue Märkte in ganz Deutschland erschließen, könnte seine Hemden und Blusen quer durch Europa schicken. Doch er will sich nicht an einer Rabattschlacht beteiligen, die noch dazu auf dem Rücken der Umwelt ausgetragen wird. Seit 2008 hat Storg immerhin eine Internet- und eine Facebookseite. So erreicht er auch jene 300, 400 Stammkunden aus Würzburg, die ihn für sein gut sortiertes Angebot schätzen – und für Parkplätze in der Nähe.
Storg ist damit schon einen Schritt weiter als die Mehrheit der unterfränkischen Einzelhändler. 51 Prozent von ihnen besitzen keine eigene Internetseite. 51 Prozent! Ist das noch reiner Zufall oder bereits ein Statement? Aufgetaucht ist die Zahl im Sommer 2015 in der Masterarbeit von Diana Thrum, einer Würzburger Studentin, die sich mit dem Internethandel in Unterfranken beschäftigte und dazu mit der IHK Würzburg-Schweinfurt kooperierte. 3000 Unternehmer und Einzelhändler in Mainfranken wurden befragt. Da die Studie als repräsentativ gilt, hat die Zahl Gewicht; sie wird seither gewogen und analysiert von Experten wie Julia Holleber, die sich bei der IHK mit Fragen des Internethandels befasst.
Zum Gespräch bringt sie ein paar Prospekte mit. In einem steht: „Lernen Sie die Welt des E-Commerce kennen.“ Aber sie weiß, dass es für ihre zaudernde Klientel deutlich mehr braucht als ein paar ermunternde Schlagworte in Hochglanzbroschüren.
Häufig muss sie Unternehmern diese Welt erklären: ihre Besonderheiten, ihre Chancen, ihre Risiken. Und doch erreicht sie immer nur die eine Hälfte. Leute wie Christiane Schwenzer, die ihre Hemmungen schon überwunden haben, die sich nicht abschrecken lassen von doppelter Warenwirtschaft, erhöhtem Lagerbedarf und der Angst vor Rechtsstreitigkeiten. Die Seminare und Veranstaltungen der IHK, bei denen Holleber als Referentin auftritt, seien „immer voll“. Aber was ist mit der anderen Hälfte? Mit denen, die sich nicht melden und nicht zum Sprechtag erscheinen? „Tja“, sagt Holleber. Mehr als für den Fortschritt werben kann sie nicht. Digitalisieren oder weichen? Ist das im Einzelhandel die Hamlet-Frage des 21. Jahrhunderts?
Als Schwenzers Eltern den Laden führten, genügte es, Schaufenster und Regale mit Taschen auszustopfen. Viele Menschen störten sich nicht daran, sie kamen so oder so. Heute muss die Ware ins rechte Licht gerückt sein, darf nicht zu gedrängt wirken, und was ihre Internetpräsenz angeht: Leder Frisch, wie der Laden früher hieß – das ging gar nicht. „Modern und peppig“ sollte der Name sein. Also suchten sie nach einer Legende und fanden: Bags for Birds, Reisegepäck für Vögel. „Denn wenn der Mensch unterwegs ist und die Welt erkundet, ist er frei wie ein Vogel.“ Das passt zur neuen Einkaufswelt, sie ist zeit- und ortlos und mit einem Klick bequem erreichbar. Kitzingen, München, Paris – im Netz alles gleich weit entfernt.
Viele ihrer Kunden im Netz kennt Schwenzer nicht. Sie kommen aus Frankreich, Österreich und Spanien, und sie weiß, dass sie nur bei ihr kaufen, weil sie einige Cent billiger ist als die anderen.
Ständig muss sie die Preise im Auge behalten und an die der Konkurrenten anpassen, immer muss die neueste Ware vorrätig sein, und wenn sie den Rucksack Deuter Futura 28 in midnight coolblue nicht da hat, sondern nur den Futura 22 in spring-anthracite, dann kommen die Kunden nicht auf die Idee, dass auch ihre Extravaganz damit zu tun haben könnte.
Uwe Schwenzer ist gekommen. Durch die Hintertür. Auch er arbeitet im Einzelhandel, als Verkäufer bei einem Kitzinger Juwelier. Er hat Feierabend wie seine Frau. Eigentlich. Gemeinsam räumen sie jetzt noch Ware ins Lager, arbeiten Nachbestellungen und die lästige Buchhaltung ab. „Wir haben zweimal die 37,5-Stunden-Woche“, sagt Uwe Schwenzer und lächelt tapfer. Der Onlineshop kostet sie so viel Zeit wie ein zweiter Laden. Dabei hat Christiane Schwenzer schon eine feste Kraft und zwei Aushilfen zusätzlich eingestellt. Sie sagt: „Reich geworden sind wir damit bislang nicht.“ Doch was wäre die Alternative? „Es ist eine Möglichkeit, um meine Existenz hier zu sichern.“
Träfe es zu, dass der Kunde von morgen jenes gut informierte, sprunghafte, anspruchsvolle Hybrid-Wesen ist, das mal im Internet, mal im Laden kauft – Schwenzer hätte vieles richtig gemacht. Draußen ist es nacht geworden. Der Laden von Christiane Schwenzer leuchtet und glitzert wie ein Kleinstadtzirkus. Sie hat die Jacke übergeworfen, ihr Mann steht mit dem Korb in der Tür. Sie wollten ja nicht drängen, aber sie müssen noch einkaufen. Vor der Tür parkt ihr Wagen. Sie fahren raus der Stadt. Raus auf die grüne Wiese.