Die Meldungen häufen sich: Immer wieder behindern Gaffer Rettungskräfte bei ihrer Arbeit, filmen Unfallopfer. Ein Experte erklärt, woher diese Schaulust bei Unfällen kommt.
Gaffer werden für Polizei und Rettungskräfte zunehmend zum Problem. Die Bilder der Unfallstelle auf der A3 bei Geiselwind im Kreis Kitzingen waren erschreckend. Und damit sind nicht nur die Bilder von dem zerdrückten Wohnmobil gemeint, in dem ein Familienvater ums Leben kam. Erschreckend war auch, was sich auf der Gegenfahrbahn abspielte: Autofahrer filmten und fotografierten im Vorbeifahren die Unfallstelle. Manche nahmen dafür sogar beide Hände vom Lenkrad und brachten so sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr. Aktuell sorgt der tödliche Unfall auf der A6 für Entsetzen: Gaffer fahren langsam an der Unfallstelle vorbei, filmen das Chaos mit ihren Handys, behindern den Verkehr und den Einsatz - bis einem Polizisten der Kragen platzt.
Gaffen ist gefährlich
Ihre Schaulust kann eine Reihe von schweren Folgen nach sich ziehen: Oft behindern Gaffer Polizei und Rettungskräfte bei der Arbeit am Unfallort oder lösen durch Abbremsen Staus auf der Gegenfahrbahn aus, die wiederum zu Unfällen führen.
Und wer vor lauter Schaulust vergisst, eine Rettungsgasse zu bilden, sorgt dafür, dass Helfer wertvolle Zeit auf dem Weg zur Unfallstelle verlieren. Durch die Verbreitung der Film- und Fotoaufnahmen missachten Gaffer außerdem die Rechte der Unfallopfer. Mancher mag sich über diese Konsequenzen seines Handels sogar im Klaren sein - und trotzdem können viele das Gaffen nicht sein lassen. Warum?
Menschen suchen Aufregung: Warum gaffen wir?
"Die eine" Antwort auf diese Frage gibt es nicht, sagt Sozialpsychologe Dr. Roland Deutsch von der Universität Würzburg. Stattdessen spielten mehrere Faktoren zusammen: Zunächst einmal fühlten sich Menschen schon immer zu spannenden, aufregenden Dingen und Situationen hingezogen. "Deshalb lesen wir gerne Kriminalromane, schauen Horrorfilme oder steigen auf dem Rummelplatz in gefährlich aussehende Fahrgeschäfte", so Deutsch. "Sensation Seeking" lautet der englische Fachbegriff für dieses Verhalten. "Diese 'Aufregungssuche' ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist als bei anderen." Auch Unfälle seien eben eine Möglichkeit, das persönliche Aufregungsbedürfnis zu befriedigen. Da schaue man oft auch ungewollt hin.
Deutsch stellt außerdem die Vermutung an, dass negative Ereignisse die menschliche Aufmerksamkeit auch deswegen so stark anziehen, weil wir aus dem Unglück anderer lernen wollen: "Ich kann mir vorstellen, dass wir auch hinschauen, um nicht den gleichen Fehler zu machen und so unser eigenes Überleben zu sichern." Untersucht habe man diese Theorie aber noch nicht.
Schaulustige bekommen mit ihren Filmen und Fotos Aufmerksamkeit
Ein zweiter erwiesener Faktor, der Schaulustige antreibt, ist die Aufmerksamkeit, die sie erfahren, wenn sie ihre Filme und Fotos im Internet verbreiten. Deutsch nennt das die "soziale Belohnung" - und die gibt es nicht erst, seitdem jeder ein Smartphone mit Kamera in der Tasche hat.
"Früher hat man eben mit Freunden, Familien und Nachbarn über das Erlebte geredet und so Anerkennung bekommen", sagt Deutsch. Die Wichtigkeit dieser sozialen Belohnung habe sich durch Smartphones und soziale Netzwerke aber erhöht.
Gaffen als Helferreflex?
So gefährlich gaffen auch sein kann - Deutsch unterstellt den Neugierigen trotzdem nicht unbedingt böse Absichten. "Ich vermute, dass hinter der Schaulust häufig auch der Reflex zu helfen liegt", sagt er. Der Mensch sei schließlich von Natur aus eine hilfsbereite Spezies, das könne man schon am Verhalten von Kleinkindern ablesen. "Wer aber auf der Autobahn einen Unfall auf der Gegenspur sieht, der kann nicht einfach aussteigen und helfen, das wäre viel zu gefährlich", so Deutsch. Weil der Mensch nicht helfen kann, will er also zumindest hinschauen - so paradox das klingt.
Der Sozialpsychologe empfiehlt trotz Helferreflex, sich dem Impuls zum Gaffen nicht hinzugeben. Deswegen sei Unfallberichterstattung in den Medien so wichtig, denn dort könnten die "Aufgeregten" und "Aufregungssuchenden" ihre Neugierde stillen, ohne sich und andere in Gefahr zu bringen.
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Von Carolin Schulte
Der Gafferreflex ist schlicht und ergreifend ein Relikt aus der Urzeit, das wir selbst durch mannigfaltige Sozialisationsbemühungen - auch unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen - noch nicht aus unserem Erbgut tilgen konnten. Interessant ist es, das Verhalten bei Tierrudeln zu studieren, wenn ein Tier daraus von einem Räuber getötet wird. Nach dem Fluchtreflex folgt das paralysierte Innehalten und kollektive Beobachten der "Gewaltszene" derjenigen, die dieses Mal noch mit heiler Haut davongekommen sind. Anschließend geht alles seinen gewohnten Gang - bis zum nächsten Mal.
Es ist deshalb völlig normal, wenn auch wir Menschen eine solche Szene, bei der eigene Artgenossen betroffen sind, mit Anteilnahme verfolgen. Wie immer heute diese Anteilnahme aussehen mag. Das Zücken von Smartphones gehört sicher zu den kranken Auswüchsen unserer in dieser Hinsicht degenerierten Gesellschaft. Ansonsten aber würde ich niemandem böse Absichten unterstellen.
Dazu gehört im Übrigen auch das Beglotzen von Behinderten oder anderweitig nicht der Norm entsprechenden Menschen. Im Gegenteil: Wer versucht, einen Rollifahrer, einen siamesischen Zwilling oder mit Brandmalen Gezeichneten tunlichst zu "übersehen", also absichtlich vorbeizuschauen und damit mit Missachtung zu strafen, verhält sich vielleicht - neudeutsch - political correct, aber mit Sicherheit nicht normal. Unsere Sinne sind permanent auf Empfangsstellung in Bezug auf das Außergewöhnliche. Früher war es überlebenswichtig, heute ist es ein - manchmal beschämendes - Relikt. Aber es gehört dazu!
Die Theorie des Sozialpsychologen in allen Ehren, aber Anthropologen, Evolutionsbiologen, Historiker, Hirnforscher und andere Wissenschaftler mehr hätten dazu sicher auch noch etwas zu sagen.
Sie machen sich das zu einfach!
Sicher sind wir Menschen auch im Computerzeitalter aufgrund unserer ererbten Gene dem Affen im Urwald noch immer näher als einem vernunftbegabten Idealbild.
Aber behaupten wir nicht immer, dass uns die Moral vom Tier unterscheidet?
Im Gegensatz zu einem Löwen, der in ein fremdes Rudel eindringt und erst einmal die Kleinen frisst um seine eigenen Gene weiterzugeben, funktionieren unsere "Patchwork-Familien doch ausgezeichnet.
Wem diese Moral fehlt und das ist m.E. bei den Gaffern, noch angeheizt von Presse, wie z.B. Bild, die solchen Gefühls-Tölpeln noch Prämien zahlen, nicht der Fall, dem muss man dann eben mit drakonischen Strafen im 4-stelligen Bereich und bei Wiederholung mit Führerscheinentzug zu einer gesellschaftstauglichen Erziehung verhelfen!
Der Polizei wäre in diesem Fall zu erlauben, mit einer Kamera den Verkehr zu filmen und alle, die mit Smartphone erkennbar sind, nachträglich einen Strafbefehl ins Haus zu schicken, die Moral des Geldbeutels verstehen nämlich auch solche Leute.
Das Problem kann ganz leicht gelöst werden, indem man die Autobahn beidseitig sperrt.