Aufwühlende Szenen vor Gericht

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An einem dunklen Wintermorgen im November 2011 starb bei Gräfenneuses ein Motorradfahrer nach einem Auffahrunfall. War es fahrlässige Tötung? Das Verfahren gegen den Verursacher wurde gestern Nachmittag gegen eine Geldauflage eingestellt.

Was ist ein Menschenleben wert? "Eine Antwort auf diese Frage zu geben, ist nicht die Aufgabe des Strafgerichts." Das stellte der Vorsitzende Richter Marc Betz gestern Nachmittag ruhig und sachlich fest - wohl wissend, dass die Angehörigen des Opfers dennoch auf eine Antwort warteten. Oder wenigstens auf etwas, das sie den Verlust leichter akzeptieren lässt.

Aber gibt es so etwas überhaupt? Kann man das, was gegen 6.35 Uhr am 2. November 2011 geschehen ist, irgendwie einordnen? Sicher ist, dass es ein diesiger Wintermorgen war, dass Nebelfelder übers Land waberten und dass die Dämmerung gerade erst eingesetzt hatte, als Werner F. (Name von der Redaktion geändert) sich nach dem Frühstück in einer Pension gemeinsam mit Kollegen Richtung Kitzingen aufmachte. Die Montagearbeiter hatten an der Schleuse Betonsanierungs-Arbeiten zu erledigen.
In zwei Kleinlastern brachen die Arbeiter von ihrem Übernachtungsort in Gräfenneuses auf, um über Geesdorf nach Kitzingen zu fahren. Werner F., Anfang 60, setzte sich hinters Steuer eines VW-Pritschenwagens, in dem er zuvor schon viele Hundert Male unterwegs gewesen war, unfallfrei. "Ich wollte den Kollegen nachfahren, die schon länger da waren und den Weg kannten", erinnerte sich der Betonsanierer aus Thüringen. Doch dann verlor er die Vorausfahrenden, weil er einem anderen Auto beim Abbiegen die Vorfahrt gewähren musste.

Was dann geschah, beschrieb eine vereidigte Sachverständige, die sämtliche Spuren am Unfallort ausgewertet hat, gestern vor Gericht so: Etwa 400 Meter nach dem Ortsausgang von Gräfenneuses Richtung Geesdorf kollidierte ein Motorradfahrer mit dem Pritschenwagen, welcher mit "maximal sechs Stundenkilometern" fuhr; es könne aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass der VW stand oder sogar mit minimaler Geschwindigkeit rückwärts fuhr. Der Motorradfahrer sei dagegen zwischen 66 und 88 Stundenkilometer schnell gewesen, als er abrupt bremste. Das Hinterrad habe blockiert, wovon eine 22 Meter lange Reifenspur zeugte. Offenbar geriet die Honda bei der Vollbremsung ins Rutschen, ehe sie mit einer Restgeschwindigkeit von 30 bis 45 Stundenkilometern gegen die linke Bordwand beziehungsweise das Rad des VWs krachte.

Der Motorradfahrer brach sich beim Aufprall das Genick. Er starb noch an der Unfallstelle.
Werner F. überlebte, äußerlich unverletzt. Gestern vor Gericht zitterten seine Hände, kurz erstarb auch seine Stimme, als er selbst von dem Unfall berichtete. Es sei neblig und noch recht dunkel gewesen. Nachdem er seine Kollegen verloren hatte, wurde er unsicher und wusste nicht, ob er sich noch auf dem richtigen Weg befand. Deshalb habe er nach dem Navigationsgerät geschaut. Dann habe es den schrecklichen Knall gegeben.
Mehrere Zeugen, die kurz nach dem Zusammenstoß zur Unfallstelle kamen, sagten gestern ebenfalls aus. Die ersten, die den Unglücksort erreichten und den Notarzt riefen, beschrieben Werner F. als geschockt. Er habe geschrien "Helfen Sie mir, helfen Sie!"

Über die Sichtverhältnisse waren sich die Zeugen nicht ganz einig. Einige sprachen von bis zu 120 Metern Sichtweite, andere von nicht einmal viertel so viel. "Nebelfelder können sich ja auch schnell mal ändern", meinte Richter Betz dazu.

"Interessant" fand er jedoch die Tatsache, dass im VW der Rückwärtsgang eingelegt war - das hatte die Polizei bei der Unfallaufnahme festgestellt. Wollte Werner F. etwa rückwärts in einen nahen Feldweg einbiegen? Der Angeklagte schüttelte den Kopf? "Nein, ich habe nur langsamer gemacht, um aufs Navi zu schauen." Er wohne abschüssig und lege zur Sicherheit immer den Rückwärtsgang ein, wenn er ein Fahrzeug verlasse.

Helm aufgelassen

Immer mehr Autos hielten am Unfallort an, darunter auch Arbeitskollegen des Motorradfahrers. Man überlegte, ob man dem Verunglückten den Helm abnehmen sollte, entschied sich aber dagegen, berichteten die Zeugen übereinstimmend. Einer brachte den Hondafahrer in die stabile Seitenlage. Ob sein Visier beschlagen oder voller Kondenswasser war? Das konnte keiner mit Sicherheit sagen. Die Brille des Kradfahrers lag jedenfalls ein paar Meter neben dem Körper, offenbar war sie ihm beim Unfall vom Kopf geschleudert worden.

Als ein Zeuge aus Geiselwind die Situation schilderte, mussten sowohl der Angeklagte als auch die Zuschauer - darunter Angehörige des Opfers - schwer schlucken. "Er hatte zuerst noch Puls, 60, 70 Schläge." Die Ersthelfer unterstützten den Notarzt, der dem Motorradfahrer den Helm fachkundig abgenommen hatte. Doch nach kurzer Zeit gab es nichts mehr zu tun. Der Mann war tot.
Wäre er nicht gestorben, wenn er den Pritschenwagen eher erkannt hätte? Wenn Werner F. nicht nur das Fahrlicht angehabt, sondern beim Abbremsen vielleicht auch einen Blinker gesetzt hätte? Wäre der Unfall vermeidbar gewesen?

All diese Fragen standen gestern im Raum. Richter, Staats- und Opferanwalt hatten zu entscheiden - nicht moralisch, sondern juristisch. "Das Fehlverhalten des Angeklagten ist am unteren Rand anzusiedeln", ließ nach dem Vorsitzenden auch der Staatsanwalt durchblicken, dass er mit einer Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage einverstanden wäre. Angesichts von Werner F.s 1400 Euro Nettolohn stellte der Vorsitzende Richter die Summe von 2000 Euro in den Raum. Diese hielt der Anwalt zunächst für "überzogen". Nach einer kurzen Unterredung mit seinem Mandanten stimmte er dann aber zu.

Zahlt Werner F. die 2000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung, dann wird das Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingestellt. Er bekommt keine Punkte in Flensburg und keinen Führerscheinentzug. Doch auch, wenn der Unfall damit juristisch für den Familienvater ausgestanden ist, wird er ihn sicher niemals vergessen.
Direkt nach der Urteilsverkündung ging ein Mann, sichtlich aufgewühlt, aus dem Zuschauerraum schnellen Schrittes auf Werner F. zu. Der Mann, offenbar der Bruder des Opfers, beugte sich über den Anklagetisch. Seine Augen blitzten: "Sie haben einen jungen Menschen auf dem Gewissen!" Werner F.s Schultern fielen noch weiter ab. Er antwortete leise: "Ich weiß."