Der Geist von Bern ist noch hellwach - Oskar Schmitt erinnert sich

4 Min
Oskar Schmitt mit einem "Kicker" von 1954 und einem Nationaltrikot, wie es die Weltmeister von Bern getragen haben Foto: Ralf Kestel
Oskar Schmitt mit einem "Kicker" von 1954 und einem Nationaltrikot, wie es die Weltmeister von Bern getragen haben Foto: Ralf Kestel

Der Eberner Oskar Schmitt hat den WM-Sieg 1954 in Bern im Stadion miterlebt.

"Aus, aus, aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!" Ein Jubelschrei, der am 4. Juli vor 65 Jahren einer geschundenen Nation das Selbstvertrauen wiedergab. Den unvergessenen Gefühlsausbruch von Radioreporter Herbert Zimmermann vernahm einer nicht: Oskar Schmitt aus Ebern. Der heute 89-Jährige verfolgte das WM-Finale gegen Ungarn nicht am Radio, sondern stand unmittelbar am Spielfeldrand im Wankdorf-Stadion und wurde des Wunders von Bern hautnah gewahr. Es blieb sein einziger Besuch in einem Fußballstadion - mit hoher Erfolgsquote und einer fachmännischen Erkenntnis...

Schmitt erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, wie jetzt zwei Mitarbeiter des Deutschen Fußballbundes (DFB) beim Besuch in seinem Haus in der Max-Reger-Straße erlebten. Sie arbeiten an einer Reportage für die Verbandszeitschrift "DFB Journal" und wollten daher mit einem der letzten Zeitzeugen dieses Spiels sprechen, das 65 000 Zuschauer vor Ort mitgerissen und ganz Deutschland begeistert hatte. Schmitts hoher Bildungsstand, Erinnerungsvermögen und Lebenserfahrung verblüffen seine Zuhörer immer wieder. Weil seinem Meister Hans Krebs in Ebern damals die Arbeit ausgegangen war, begab sich Schmitt als gelernter Wagner von 1951 an auf die Walz und landete in Köln bei Burkhard Hirsch, dem späteren Vizepräsidenten des Bundestags (FDP), der ihm auch eine Lehre als Zimmermann ermöglichte.

"Ein großzügiger Mensch", so Schmitt, der ihm 1954 einen Wechsel in die Schweiz empfahl, weil dort mehr Geld zu verdienen war. Zu Fuß machte er sich über mehrere Gesellenvereine auf den Weg und landete nach zwei Wochen in Höchstetten, zwischen Solothurn und Bern gelegen, wo er eine sehr gut bezahlte Anstellung als Wagner und Zimmerer fand.

Regen macht Karten billiger

Am 4. Juli 1954 brach er zusammen mit zwei weiteren Deutschen, die im selben Dorf als Landwirtschafts-Praktikanten tätig waren, bei strömenden Regen auf Rädern ins 27 Kilometer entfernte Bern auf. "Der Sohn meines Meisters hat noch gespottet: ,Was wollt Ihr denn dort, die Ungarn hauen Euch die Kutte voll, die haben doch schon in der Vorrunde 8:3 gewonnen? Ihr kriegt eine Schlappe draufghaut.‘" Die Schweizer sympathisierten laut Schmitt weit mehr mit den Ungarn als mit den Deutschen. "Die Ungarn hatten ihr Quartier in Solothurn und schon das Festmahl für den Abend gerichtet", war ihm berichtet worden. "Und überall wurde verkündet, dass es keine Eintrittskarten mehr gibt."

Das änderte der Dauerregen, denn als das Trio die Fahrräder in Bern am Bahnhof abstellte ("Die musste man damals nicht einmal absperren"), wurden den Deutschen gleich Karten zum Preis von acht Franken angeboten. Sie schlugen sofort zu. "Direkt vor dem Stadion haben sie nur noch sechs Franken verlangt." Aber so kamen Oskar Schmitt aus Ebern, damals 24 Jahre alt, sowie seinen beiden Begleiter Martin Schmitt aus dem Sudetenland sowie der Schlesier Franz Seifert an drei Stehplatzkarten. "Das waren gute Plätze, ganz unten auf Höhe der Mittellinie."

"Wir gratulieren Ungarn"

Die Stimmung im Stadion war überwältigend. "Viele Deutsche, aber Schweizer und Ungarn stellten die Mehrheit und hatten sich verbündet. Wir sangen natürlich die Nationalhymne mit, manche noch mit dem alten Text. Wir aber nicht. Die Schweizer hielten schon Transparente hoch: Wir gratulieren Ungarn zum Gewinn der Weltmeisterschaft."

Danach sah es nach der schnellen 2:0-Führung der Ungarn durch Tore von Puskas und Czibor in der 6. und 8. Minute auch aus. "Beim 1:0 war der Turek drei Meter rechts aus seinem Tor raus", wundert sich Schmitt noch heute.

Hoffnung keimte auch bei ihm durch den schnellen Anschlusstreffer von Max Morlock (10. Minute) sowie den Ausgleich durch Helmut Rahn (19.). Danach wogte das Spiel hin und her, allerdings mit deutlichen Vorteilen für die Ungarn. Für einen Freudentaumel sorgte die Führung kurz vor dem Ende. "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, und Rahn schießt. Tor! Tor! Tor!", tönte es in der 85. Minute über den Äther. Schmitt weiß mehr: "Die Ungarn schossen den Ausgleichstreffer, aber der Schiri aus England hat es nicht gelten lassen. Der Spielführer der Ungarn, Ferenc Puskas, hat sich deswegen vor uns aufs Spielfeld geworfen, auf den Boden getrommelt und die Grasbüschel ausgerissen."

Eine Szene, die vielleicht nicht nur DFB-Mitarbeiter Udo Muraus, der aus Frankfurt nach Ebern gekommen war, bislang völlig fremd war. "Und war's denn Abseits?", hakte er nach. "Eindeutig", antwortete der Augenzeuge, der danach nie mehr ein Länderspiel oder ein Bundesligaspiel besuchte, höchstens mal beim heimischen TV Ebern vorbeischaut. "Aber auch das eher selten." Schmitt hat sich erfolgreich der Kleinzierzucht verschrieben, wo er sich auch als Preisrichter einen Namen machte.

Erst Feiern, dann Radsturz

Nach dem glorreichen Sieg kehrten die drei Freunde in Bern im Kornhaus-Keller ein und tranken "so um die zwei Bier". Vielleicht waren es auch ein paar mehr. "Die Schweizer wollten uns etwas ausgeben, aber wir verzichteten, weil sie zuvor zu den Ungarn gehalten hatten."

Auf jeden Fall wurden gegen 0.30 Uhr erneut beim strömenden Regen die Räder für die Heimfahrt bestiegen, wobei es zu einem Sturz mit Folgen kam. Nicht nur, dass sich Seifert dabei eine Kopfwunde zuzog. Er rief auch die Polizei auf den Plan, was einen Strafbefehl über 350 Franken wegen des "Fahrens im betrunkenen Zustand auf der Bundesstraße 1" nach sich zog. Als "schönes Erlebnis" bezeichnet Schmitt, der im Oktober 90 wird, die Tatsache, dass er beim Wunder von Bern vor Ort dabei gewesen ist.

Neun Jahre war er als Bruder von sechs Schwestern auf der Walz, immer wieder zog es ihn in die Schweiz, weil dort gutes Geld zu verdienen war. "Ich habe viel nach Hause geschickt und sogar ein Schweizer Konto angelegt." Und auch heuer plant er eine Rückkehr nach Zermatt, wo ihn das Matterhorn (fast) mit dem Vornamen begrüßt.

Vom Ersparten baute er das Eigenheim in Ebern für die Familie mit drei Kindern. Zunächst war er Einschaler bei einer Baufirma und dann Betriebszimmermann bei Kugelfischer (später FTE). Nun genießt Schmitt seinen Ruhestand und seine Erinnerungen.