Meine Mutter hatte eine enge Freundin, die in der 500-Meter-Sperrzone lebte, in der die Menschen unvergleichlich stärker überwacht und reglementiert wurden. Durch sie wusste ich, dass es neben dem Sperrgebiet noch diese nur 500 Meter schmale Zone zwischen den zwei Zäunen gab. Ich wusste, dass dort Menschen wohnten und versuchten, ein normales Leben zu führen. Von den Zwangsumsiedlungen wusste ich damals noch nichts. Den Betroffenen war es unter strengster Strafe verboten, darüber zu sprechen. Die Geschichte der Familie Dressel ist fiktiv, aber ihr Schicksal teilen die unzähligen Familien, die in der DDR zwangsumgesiedelt wurden.
Als ich mit dem Roman begonnen habe, waren alle Erinnerungen wieder da und ich hatte plötzlich so schlimmes Heimweh, dass es kaum auszuhalten war. Erinnern ist manchmal viel schwerer als vergessen, aber gleichzeitig eben auch sehr tröstlich. Das, was uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind, kann uns niemand mehr wegnehmen.
Wie haben Sie die Geschichte recherchiert, welche Quellen genutzt?
Der Roman spielt in zwei Zeitebenen und umfasst im historischen Teil die Spanne von 1945 bis 1977. Zunächst habe ich mir mit Hilfe von Fachbüchern eine solide Faktenbasis geschaffen.
Ich bin sehr dankbar für die Arbeit unserer Archive, denn dort habe ich die für die jeweiligen Jahre geltenden Polizeiverordnungen zur Demarkationslinie, aber auch Briefe des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Borkenkäferbekämpfung in Thüringen oder Berichte an das Ministerium für Staatssicherheit über die Aktionen zu Zwangsaussiedlungen gefunden.
Um den Wohnort der Familie Dressel festlegen zu können, benutzte ich alte Landkarten und eine Karte von den ehemaligen Sperrgebieten. Die genaue Lage habe ich mir dann am Rennsteig erwandert. Für die Schreibzeit hatte ich ein kleines Quartier am Rennsteig genommen. Das war nicht nur für die Inspiration wichtig, sondern auch für die vielen Gespräche mit den Zeitzeugen vor Ort.
Diese Berichte waren für mich von unschätzbarem Wert, weil ich durch sie etwas erfahren habe, was in keinem Buch und in keiner Akte steht. Nämlich wie sich die Menschen gefühlt haben, die in der Sperrzone lebten, wie sie das Trauma der Zwangsaussiedlung und die anschließende Stigmatisierung empfunden haben und wie es ihnen heute mit diesen Erinnerungen geht.
Wie haben Sie die Menschen erlebt? Wie präsent ist die Vergangenheit bei Ihren Gesprächspartnern noch heute?
Ich habe mit Menschen gesprochen, die zwangsausgesiedelt wurden, mit Menschen, die in der 500-Meter-Zone wohnten, und mit Menschen, die schon seit ihrer Geburt in der Gegend um den Rennsteig leben. Manche von ihnen haben sich immer wieder vergewissert, dass es sich um einen fiktiven Roman handelt und sie anonym bleiben werden, andere wollten über ihre Erlebnisse überhaupt nicht sprechen und wieder andere waren froh, es erzählen zu dürfen.
Ich habe viele Stunden damit zugebracht, fremden Menschen zuzuhören, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben, und beim Abschied waren es jedes Mal keine Fremden mehr für mich.
Ich habe mit einer Frau gesprochen, die von ihrer Deportation als Zehnjährige berichtet hat. Sie konnte mir noch jedes schreckliche Detail des Morgens, an dem es geschah, berichten. Auf der Rückfahrt von dieser Begegnung musste ich auf der Landstraße anhalten, weil ich einfach nicht mehr weiterfahren konnte und erst einmal weinen musste.
Noch einmal zurück zum Thüringer Wald. Welche Rolle spielt der Wald für die beiden Protagonistinnen in Ihrem Buch?
Für Milla ist es ein verwunschener Ort, an dem sie auf die Jagd nach verlorenen Orten, den Lost Places, geht. Es ist ein Ort, an dem sie ihre eigene Einsamkeit vergessen möchte. Für Christine hingegen ist es die reale, gelebte Vergangenheit. Der Thüringer Wald ist ihre Heimat und ihr Zuhause, ein Ort der Erinnerung und der Liebe. Aber beide Frauen finden im Wald etwas, wonach sie lange gesucht haben. Ich denke, genau das macht die Magie des Waldes aus: Er lässt uns erinnern und hilft zu vergessen.
Die Fragen stellte Christiane Lehmann.