Mit "Heaven, My Home" hat Attica Locke keinen unterhaltsamen Krimi für erholsame Stunden geschrieben, sondern einen anspruchsvollen Roman. Nachdenken ist beim Lesen erwünscht.
Sigismund von Dobschütz Wer "Bluebird, Bluebird" (2019), den mit zwei renommierten US-Literaturpreisen ausgezeichneten Roman der Afroamerikanerin Attica Locke (46) schon kennt, dürfte es beim Folgeband "Heaven, My Home" leichter haben. Erstleser werden sich dagegen anfangs schwer tun, sich in die Verwicklungen und Finessen der Ermittlungsarbeit des schwarzen Texas Rangers Darren Mathews einzufinden, zumal der aktuelle Fall durch Verbindungen zu einem zurückliegenden Mord überlagert wird.
Auch in "Heaven, My Home" geht es um die rassistische Scheinheiligkeit des Miteinanders oder eher Nebeneinanders von Schwarz und Weiß im provinziellen Osten Texas, eben jenes Staates, dessen Probleme der schwarzen Bevölkerung die afroamerikanische Autorin als dort Geborene wenn nicht selbst erfahren, dann doch hat beobachten müssen. Der Roman spielt im politischen Vakuum zwischen Donald Trumps Wahl zum Präsidenten und seiner Amtseinführung. Rassisten wie die neonazistische Arische Bruderschaft Texas (ABT), in der Vergangenheit von Ordnungskräften mühsam zurückgedrängt, fühlen ihre Zeit gekommen. Alte, erloschen geglaubte Rassenvorurteile in der Bevölkerung werden durch das sich verändernde politische Klimas neu entfacht.
Genau in dieser Zeit verschwindet im Marion County der neunjährige Levi King, Sohn einer Weißen, die mit einem Rassisten in einem Trailer-Park auf dem Privatgrundstück des alten Schwarzen Leroy Page lebt. Page, der nach eigener Aussage den Neunjährigen zuletzt sah und mit ihm früher schon Streit hatte, wird vom FBI des Mordes verdächtigt. Der weiße FBI-Mann Greg, ein Studienfreund des schwarzen Rangers, will nachweisen, dass nicht nur Weiße Hassverbrechen an Schwarzen begehen, sondern umgekehrt auch Schwarze an Weißen. Ranger Mathews wird von seinem Vorgesetzten an den Tatort geschickt, um letzte Beweise gegen die mit Drogen handelnde und mordende ABT zu sammeln, noch bevor Trump ins Amt eingeführt wird.
Attica Locke versteht es meisterhaft, uns im weiteren Verlauf das Denken und Fühlen vor allem schwarzer Südstaatler und die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Problematik im Zusammenleben zu verdeutlichen. Vor allem in den parallel laufenden Ermittlungen der beiden Freunde Greg und Darren werden die Schwierigkeiten, Komplikationen und Vorurteile deutlich: Während es für FBI-Mann Greg wegen aufgefundener Indizien erwiesen ist, dass der alte Schwarze den Neunjährigen ermordet haben muss, hält Ranger Darren dies für unwahrscheinlich, da nicht sein kann, was nicht sein darf. Darren wagt es nicht, wie Freund Greg ihm vorwirft, "sich zu seinen eigenen blinden Flecken zu bekennen, wenn es um Schwarze ging, zu dem Gefühl von Rücksichtnahme, das ihn durchdrang, und zu dem Instinkt, schützen und dienen zu wollen, der in ihm vor allem bei älteren Schwarzen erwachte, Männern und Frauen, deren Kämpfe und Stärke Darrens Leben erst möglich gemacht hatten." Gerade um sie und ihre Rechte zu schützen, hatte er Jura studiert und war Ranger geworden.
Attica Locke macht es uns deutschen Lesern, die wir mit dem in den USA seit der Sklaverei tief verwurzelten Rassenproblem nicht vertraut sind, mit ihrem vielschichtigen, sensiblen Roman nicht leicht, das Gelesene unmittelbar zu verstehen. "Heaven, My Home" ist wahrlich kein unterhaltsamer Krimi für erholsame Stunden, sondern ein anspruchsvoller Roman, der zum Nachdenken anregt - und über den man nachdenken sollte. Denn Rassismus ist leider nicht mehr nur in den USA ein aktuelles Thema. Diese und weitere Rezensionen unseres Lesetipp-Autors Sigismund von Dobschütz finden Sie auch bei Facebook unter: www.facebook.com/buchbesprechung.