"Verspielt eure Freiheit nicht"

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Norbert Kittel als Gymnasiast (links oberste Reihe) mit einem Teil seiner Klasse, kurz bevor die Schüler als Flakhelfer eingezogen wurden Foto: p
Norbert Kittel als Gymnasiast (links oberste Reihe) mit einem Teil seiner Klasse, kurz bevor die Schüler als Flakhelfer eingezogen wurden Foto: p
Zeitzeuge Norbert Kittel zeigt seinen Ausweis, den die Sowjetunion dem ehemaligen Kriegsgefangenen ausgestellt hat. Foto: mkh
Zeitzeuge Norbert Kittel zeigt seinen Ausweis, den die Sowjetunion dem ehemaligen Kriegsgefangenen ausgestellt hat. Foto: mkh
 

Als 15-jähriger Gymnasiast schoss Norbert Kittel 1944 auf feindliche Flugzeuge. Der ehemalige Luftwaffenhelfer erzählt beim Klassentreffen in Bamberg über seine Erlebnisse - und über ein geschenktes "zweites Leben".

Marion Krüger-Hundrup

Aufrecht, gertenschlank, vital: So begegnet der 89-jährige Norbert Kittel der Journalistin im Bamberger Hotel Messerschmitt. Klassentreffen ist für den gebürtigen Breslauer angesagt: "in einer der schönsten Städte Deutschlands", lächelt der alte Herr. Klassentreffen in dem hohen Alter bedeutet, dass sich eine Handvoll Kameraden aus einstiger Zeit samt Ehefrauen, Kindern, Enkeln zusammenfinden, um Erinnerungen auszutauschen und die Gegenwart in den Blick zu nehmen. Im Gepäck für den dreitätigen Ausflug nach Bamberg ist aber mehr als nostalgisches "Weißt du noch, damals ...?"
Norbert Kittel ist einer der letzten Zeitzeugen des "Tausendjährigen Reiches", das so unsagbares Leid über die Welt gebracht hat und das - Gott sei's gedankt - gerade einmal zwölf Jahre überdauerte. Kittel, entfernt verwandt mit dem einstigen Bamberger Domdekan Helmut Kittel, trägt die Spuren jener Zeit bis heute in sich. "Lange konnte ich gar nichts erzählen", sagt er leise. Doch inzwischen ahne er, dass die jetzige und künftige Generation "wissen muss!" Damit sie "nicht ihre Freiheit verspielt und aufmerksam wird für jedwede extremistische Strömung, gleich ob von rechts oder links". Damit sie sich einsetzt "für die Menschenrechte, für Meinungs- und Pressefreiheit, für Religionsfreiheit!"
Damals, als er mit fünfzehn Jahren den Einberufungsbefehl per Brief erhielt, tobte der Zweite Weltkrieg. Von der Schulbank des Elisabet-Gymnasiums im schlesischen Breslau weg musste der Bub als Luftwaffenhelfer den Fußball gegen Handgranaten eintauschen. Flak-Batterien bedienen wurde wie für rund 200 000 solcher jugendlicher Helfer 1944 bis 1945 seine tägliche Aufgabe. Freimütig gibt Norbert Kittel zu, dass ihn das anfangs "begeisterte, das war eben eine völlig andere Zeit". Nachrichten aus dem Ausland gab es nicht. "Wir waren eingezwängt in ein Schema."
Im Januar 1945 wurde Breslau zur Festung erklärt, die Russen rückten vor- und die Jungsoldaten schossen, so gut sie konnten. Am Ende half alles nichts, der Feind eroberte die Stadt. Für den ehemaligen Gymnasiasten begann die schwerste Zeit seines Lebens.


Im Viehwaggon in den Ural

Was für ein Kontrastprogramm zu heute in der feudalen Bar des Hotels Messerschmitt mit dem Ölgemälde des Alten Rathauses über der Regnitz. Designerleuchten, edles Mobiliar, funkelnde Gläser. Abstrus muten da die Schilderungen aus der Gefangenschaft an, die Kittel durchleiden musste. Die sowjetischen Soldaten pferchten die Gefangenen in Viehwaggons. Diejenigen, die diese achtwöchige Tortur überlebten, kamen nach Usbekistan, andere nach Sibirien. Kittel wurde in ein Lager nach Nischni Tagil gebracht, eine russische Stadt im mittleren Ural.
Drei Jahre musste er dort ausharren, in einer kalten, elenden Baracke. Jeden Tag fällten die Gefangenen Bäume, pflasterten Straßen. Ohne Fleisch, Butter, Zucker. Nur Wassersuppe und Brot. Erst 1948 kam Norbert Kittel frei. Ausgemergelt, zu Tode erschöpft. Er gelangte zu seiner Familie in dem Dorf Schönram bei Freilassing im Berchtesgadener Land. "Dort begann mein zweites Leben!" In Bad Reichenhall machte er sein Abitur, begann danach als Reporter für den "Südostkurier" zu arbeiten, ging später in die Werbebranche. Kittel heiratete seine Sieglinde, bekam mit ihr zwei Kinder, lebt heute in München.
Schon seit 1980 organisiert er die Klassentreffen. Anfangs sei es gar nicht so einfach gewesen, die alten Kameraden aufzutreiben. Es gab ja noch kein Internet. Doch man traf sich etwa in Berlin, aus Rücksicht auf die in der DDR wohnenden Kameraden auch in Ungarn. Und jetzt Bamberg, "eine tolle Stadt!", schwärmt Norbert Kittel nach dem Besuch der Altstadt mit Dom samt Orgelkonzert und Neuer Residenz. Und dann gibt der Sohn des einstigen Klassenprimus im Elisabet-Gymnasium noch ein Klavierkonzert in der Städtischen Musikschule auf dem Michelsberg.
"Niemand kann die NS-Zeit richtig verstehen, der sie nicht miterlebt hat", räumt Norbert Kittel ein. Auch die kargen Jahre nach Kriegsende seien heute nicht nachvollziehbar, "wo es alles im Überfluss gibt". Sich bescheiden, teilen, solidarisch sein mit denen, den Lebensnotwendiges fehlt: Norbert Kittel sagt selbst, dass er in seinem "zweiten Leben" einiges gelernt hat. Auch Dankbarkeit über das Geschenk, seit über 70 Jahren keinen Krieg erlebt zu haben. Und dann sagt er es noch einmal: "Wir müssen alles dran setzen, dass wir uns diese Freiheit erhalten!"