Eine stimmungsvolle Symbiose aus Literatur und Musik erlebten die Besucher in der evangelischen St. Johanniskirche in Steinwiesen. Ingo Cesaro las zum Gedenken an die Todesmärsche 1945 einige seiner Engel-Gedichte.
Steinwiesen — Es ist ein heimeliges Kirchlein, das auf einer kleinen Anhöhe in Steinwiesen auf Besuch wartet. Das kleine Gotteshaus war am Sonntagnachmittag erfüllt von ergreifenden Gedichten, vorgetragen von ihrem Verfasser Ingo Cesaro. Es war aber auch erfüllt von herrlichen Orgelklängen, mit denen Hilmar Bauerfeind die wehmütigen Gedanken mit großem Einfühlungsvermögen klangmalerisch umsetzte.
"Mich riss ein Fremder gerade noch vor dem einfahrenden Zug zurück. Mein gestrauchelter Schutzengel schaffte es nicht mehr rechtzeitig. Als blutiges Bündel verflüchtigte er sich ...." - die fesselnde Literaturlesung wartete mit einer stimmigen Auswahl von Engelgedichten auf, darunter auch "Mein unerreichbarer Schutzengel". Zu hören waren dabei vor allem Gedichte aus dem Band "Aus dem Schatten der Engel", das Engelgedichte aus 25 Jahren enthält. 150 seiner verfassten Engelgedichte sowie 120 Übersetzungen einzelner Gedichte in 21 Sprachen sind in dem Band gesammelt. Entstanden sind diese seit dem Supergau von Tschernobyl. Mit der Metapher Engel versucht der Schriftsteller, das "Unaussprechliche" in Worte zu fassen - und gleichzeitig viel Raum für eigene Gedanken und Interpretationen zu lassen.
In der Johannes-Offenbarung, so Ingo Cesaro, heißt es: "Es wird ein Stern vom Himmel fallen ... und dieser Stern heißt Wermut, als Wermutstern" - auf Russisch oder Ukrainisch - Tschernobyl, obwohl der Ort selbst erst 1196 erstmals urkundlich erwähnt wurde. "Tschernobyl war neben den Kriegen die größte Katastrophe der Neuzeit", zeigte sich Cesaro noch immer erschüttert von dem Ausmaß, das nach Schätzungen, inklusive Spätfolgen, rund 15 Millionen Menschen das Leben kostete. Auf die ihm bis dato nicht bekannte Bedeutung von Wermutstern habe ihn damals ein russischer Kollege aufmerksam gemacht, nachdem Schriftsteller und Grafiker nächtelang Gedichte für eine Grafik-Text-Mappe zum ungeheuren Nuklear-Unglück zusammengestellt und nach einem passenden Titel gesucht hatten. "Kennst Du Deine Bibel nicht", fragte er mich, erinnerte sich der Kulturvermittler.
Dass sich dieser meisterhaft auf das pointiert konzentrierte Umsetzen seiner Gedanken versteht, ist hinreichend bekannt. Gleichzeitig weiß er aber auch, diese sensibel vorzutragen: leise, behutsam, eindringlich!
"Ich schreibe immer wieder mal ein Engelgedicht. Aber derzeit beschäftigen mich einfach andere Dinge - wenn ich daran denke, wie viele Menschen täglich im Mittelmeer ertrinken, während wir nur relativ wenig dagegen tun", prangerte er an.
Im Februar habe er einen Brief an den Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, geschrieben und ihn darin gefragt, wo die Ethik der Kirche geblieben sei. Vor der Corona-Krise habe die evangelische Kirche Deutschland ein früheres Forschungsschiff zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer gekauft und entsprechend umgerüstet. Dann sei die Pandemie gekommen. Soweit er wisse, sei die "Poseidon" nun aber tatsächlich im Einsatz.
Den furchtbaren Geschehnissen widmete der Schriftsteller das Buch mit politischen Gedichten "In die Speichen greifen", woraus er beispielsweise das gleichnamige Gedicht wie auch "Vor Malta", "Beifang", "Schreibtischtäter" und "Ertrinke ich" vortrug. Über die Corona-Pandemie habe er bislang zwei Gedichte verfasst. Hierzu soll es einen Band geben, der 2021 auf der Buchmesse in Frankfurt vorgestellt wird.
Reflektiert wurden Cesaros tiefgängigen Gedanken von Hilmar Bauerfeind auf der Orgel. Zwischen den Passagen hatten die Zuhörer so Zeit, die lyrische Poesie wirken zu lassen und sich darüber eigene Gedanken zu machen.
Die letzte schreckliche Phase
Wie Pfarrer Hans-Peter Göll ausführte, habe er sich sehr gefreut, als Ingo Cesaro im vergangenen Jahr mit dem Vorschlag einer Gedichtlesung mit Orgel-Interpretationen - zum Gedenken an die Todesmärsche 1945 - auf ihn zugekommen sei. Die Auflösung der Konzentrationslager und ihrer Außenlager markiert die letzte schreckliche Phase des KZ-Systems in der Diktatur des Nationalsozialismus. Unter unvorstellbar grausamen Bedingungen wurden die Menschen durch die Gegend getrieben. Auch durch den Frankenwald führten im Frühjahr 1945 einige dieser Todesmärsche, woran Christen nun 75 Jahre nach Kriegsende auf breiter ökumenischer Basis erinnern wollten.
Bernhard Singer hatte mit viel Engagement für den 21. März einen Gedenkmarsch von Geroldsgrün in die Jubilate-Kirche geplant; der Lockdown dann aber fast all seine diesbezügliche Arbeit zunichte gemacht. "Nur eine Veranstaltung war gleich für Herbst vorgesehen", so der Pfarrer - nämlich die nunmehrige Lesung mit begleitender bzw. interpretierender Orgelmusik.
Dessen so hoffnungsvoller Abschluss bildete das gemeinsam von den Mitwirkenden wie Besuchern angestimmte Lied "Freunde, dass der Mandelzweig", das so gut zur Stimmung an diesem strahlend schönen Spätsommertag passte.