"Ich möchte die Zeit nicht missen"

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Stöbern in alten Fotoalben: Mitorganisatorin Gertrud Kaindl und Jürgen Frießner Fotos: Ralf Naumann
Stöbern in alten Fotoalben: Mitorganisatorin Gertrud Kaindl und Jürgen Frießner  Fotos: Ralf Naumann
Die Teilnehmer des Ehemaligen-Treffens mit der Bundestagsabgeordneten Dorothee Bär (Dritte von rechts)
Die Teilnehmer des Ehemaligen-Treffens mit der Bundestagsabgeordneten Dorothee Bär (Dritte von rechts)
 

Erinnerung  Ehemalige Bewohner des Josef- Kinderheims in Eltmann trafen sich zu einem Wiedersehen in Ebelsbach. Der Blick zurück geschieht nicht im Zorn. Ganz im Gegenteil.

von unserem Mitarbeiter Ralf Naumann

Ebelsbach/Eltmann — Jürgen Frießner hat durchaus gute Erinnerungen an sein "Schicksal" und das seiner drei Geschwister. Wobei: Die Unterbringung von 1976 bis 1984 im Eltmanner Kinderheim Sankt Josef, nachdem beide Eltern frühzeitig verstorben sind, war für den heute 50 Jahre alten Ebelsbacher kein Schicksal und erst recht keine Strafe oder Demütigung. "Ich möchte die Zeit nicht missen, die ich dort verbracht habe", blickt der Montierer keineswegs im Groll zurück. Im Gegenteil: "Ich wüsste sonst nicht, was aus mir oder manch anderen geworden wäre."
Nach 35 Jahren erinnerte sich Frießner am Samstag nochmals genauer an seine Zeit in der Wallburgstadt. Doch nicht nur er. Mehr als 50 andere ehemalige Kinder, die teilweise schon als Babys ins Heim kamen und dieses erst mit einer Adoption verlassen konnten, trafen sich in Ebelsbach zu einem großen Wiedersehen. Gekommen waren sie unter anderem aus Augsburg, Stuttgart, Berlin, Kaiserslautern, Würzburg, Fulda, Eltmann und Ebelsbach.
Dabei waren zudem viele Erzieher wie Gertrud Kaindl. Sie war nach ihrer Ausbildung von 1982 an sieben Jahre lang im Gruppendienst eingesetzt und dabei für zehn bis zwölf Mädchen und Jungen vom Kleinkind- bis zum Jugendalter zuständig. "Die Gruppen hatten dort einen familienähnlichen Hintergrund", sagte die Ebelsbacherin, die das Treffen mitorganisiert hatte und sich um einen reibungslosen Ablauf kümmerte. Kaindl war damals wie ihre meist weiblichen Kolleginnen nur tagsüber im Einsatz, "vom Früh- beziehungsweise Weckdienst bis in den Abend. Der Nachtdienst wurde noch von den Schwestern übernommen."
Doch während ihrer Arbeitszeit hatten die Mitarbeiter viele Aufgaben im pflegerischen, hauswirtschaftlichen sowie pädagogischen Bereich. Ebenso am Nachmittag, etwa bei der Hausaufgabenbetreuung sowie der Freizeitgestaltung. "Die war ausgewogen", lobt Jürgen Frießner, der Gertrud Kaindl noch in guter Erinnerung hat. "Man konnte sich austoben durch Fußball, aber auch im Sommer viel ins Schwimmbad gehen." Spiele am Nachmittag und gemeinsame Unternehmungen mit den Erziehern rundeten das Alltags-Programm ab. Dazu noch die Glanzlichter in den Ferien. "Da wurden Ausflüge und Urlaube gemacht für die Kinder, die nicht nach Hause konnten oder durften." Darum kümmerte sich auch ein spezieller Freizeitpädagoge in Eltmann.
Kinderheim war und ist freilich viel mehr als Unterbringung, Dach über dem Kopf oder Freizeitgestaltung. "Den Jugendlichen hatte man bei der Stellenvermittlung geholfen und wir waren Ansprechpartner für ihre Probleme", hebt Gertrud Kaindl hervor. Für die kleinen Heimbewohner waren sie und ihre Kolleginnen wie ein Mutterersatz und ein Spielgefährte. "Ziel war es immer, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen." Das klappte bei Jürgen Frießner sehr gut. Und auch wenn es natürlich die eine oder andere Meinungsverschiedenheit gab: Die meist "ziemlich jungen Erzieherinnen" waren "sehr nett und sind mit uns mehr oder weniger gut ausgekommen", lacht der leidenschaftliche Läufer und Triathlet. Ebenso bezeichnet er das Verhältnis mit den anderen jungen Bewohnern als "eigentlich auch gut. Klar, die eine oder andere Auseinandersetzung hat es schon mal gegeben. Aber wir hatten uns danach wieder zusammengerauft und vertragen." Insgesamt sei der Zusammenhalt "sehr fest" gewesen. "Wir hatten alle irgendwo ein gewisses Schicksal zu teilen."

Hat's geschmeckt und gereicht?

Und wie war es damals um das leibliche Wohl bestellt? "Das Essen war eigentlich immer gut und reichlich. Einige Ordensschwestern aus der Küche schusterten manchen schon mal eine extra Portion zu, wenn sie wussten, dass man ein guter Esser war. Klar gab es mal was, das nicht jedem geschmeckt hat", lacht Jürgen Frießner. "Aber das ist in anderen Familien doch genauso", weiß er.

Ersatz der Eltern

Die Kinder und Jugendlichen erfuhren Geborgenheit. Die Nonnen im Kinderheim, die die Oberaufsicht hatten, "waren immer bemüht, ein gewisser Ersatz der Eltern zu sein, was ich persönlich sehr geschätzt habe", sagt Frießner. Diese Aussage kann die heutige Montessori-Pädagogin, die mittlerweile den Kindergarten in Neubrunn leitet, nur bekräftigen.
Seine persönliche Gruppenschwester Edwina ist Frießner "sehr ans Herz gewachsen." Er hat sie noch einige Male in Eltmann besucht und auch danach in ihrem Ruhestandsdomizil, dem Kloster Maria Hilf in Heidenfeld, wo sie 2011 verstarb.
Im Juli 1984 hat der leidenschaftliche Leichtathlet mit 17 Jahren das Kinderheim verlassen und ist mit seiner jetzigen Ehefrau in Ebelsbach zusammengezogen. Der Kontakt in die Wallburgstadt ist dabei nie abgebrochen, da seine Geschwister noch dort lebten. "Natürlich habe ich sie regelmäßig besucht." Die Entscheidung, sich als Teenager schon auf die eigenen Beine zu stellen, zu arbeiten und eine Familie zu gründen, war im Nachhinein goldrichtig: Mittlerweile ist er 31 Jahre verheiratet und stolzer Vater von drei Kindern sowie Opa von vier Enkel. Jürgen Frießner, der auch noch den Krebstod seiner erst 40 Jahre alten Schwester verkraften musste, hat das für ihn Beste aus seinem Leben gemacht und sich vor allem nicht aus der Bahn werfen lassen. "Die Zeit im Heim", betonte er am Samstag nochmals, "hat mich wirklich weitergebracht und geprägt."