Harald, Mutti und die gerechte Welt

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Markus Häggberg Die Welt ist im Fluss, alles steht mit allem in Zusammenhang. Wer nehmen will, muss geben können, und im Himmel ist Jahrmarkt. Oder so ähnlich. Harald ist in wunder...

Markus Häggberg

Die Welt ist im Fluss, alles steht mit allem in Zusammenhang. Wer nehmen will, muss geben können, und im Himmel ist Jahrmarkt. Oder so ähnlich.
Harald ist in wunderbaren Mächten geborgen. Sie nennen sich Freunde und nehmen Anteil an seinem Innenleben. Das wird im Grunde auch nur von Mutti aus dem Gleichgewicht gebracht, und wenn Harald einen Vergleich ziehen müsste, fiele ihm der Held Superman ein, dessen Schwachstelle einzig die grünliche Gesteinsform Kryptonit bildet. Haralds Kryptonit ist Mutti. Haralds Freunde beschwören ihn, gewisse Dinge mit ihr ins Reine zu bringen, denn eine Mutti lebt nicht ewig.
So bestieg Harald in Bad Staffelstein den Zug, um seiner Mutti in Nürnberg einen Besuch abzustatten. Gern fuhr er nicht, denn er erinnerte sich noch allzu gut an die unheiligen Vorgänge beim letzten Besuch. Besonders einer davon blieb ihm Gedächtnis - er könnte einem Theaterstück von Woody Allen entstammen.
Mutti bewohnt nämlich ein winzig kleines Ein-Zimmer-Appartement, und wenn Harald nur das Gästebett aufklappt, dann hat das schon weitreichende Auswirkungen auf die innenarchitektonische Balance des übrigen Raumes. Wie ein Folgefehler zieht sich durch den Raum, was nicht einmal einen Quadratmeter mehr Liegefläche ausmacht. Denn durch das Aufklappen muss der Stelltisch etwas weichen. Platz findet er dann in der Nähe des Sekretärs. Dazu aber muss dieser in Nachbarschaft zum Fernseher gestellt werden, und damit das gelingt, muss Mutti ihr Bett auch verrücken.
Bei Abreise und Einklappen des Gästebetts muss das innenarchitektonische Gefüge des Raumes dann in umgekehrter Reihenfolge wieder ins Lot gebracht werden - Muttis Bett, Fernseher, Sekretär, Stelltisch, Klappbett.
Außerdem schnarcht Mutti. Noch in schauriger Erinnerung sind Harald ihre Blutdruckmessungen zwischen 3 und 6 Uhr morgens, samt dazu gehörigen mehr oder minder fundierten Diagnosen.
An all das dachte Harald, als er durch das Zugfenster das Obermaintal entschwinden sah. Seine Freunde kamen ihm wieder in den Sinn, besonders Uwe. Der glaubt nämlich, dass es in der Welt gerecht zugeht. Auch wenn wir Menschen das nicht immer verstehen. Aber über Raum und Zeit hinweg komme allem Bedeutung zu, gebe es wechselseitigen Abhängigkeiten, und wer nehmen will, müsse geben können. "Die Welt ist gerecht", pflegt Uwe zu versichern. Oft genug hatte er Recht behalten, was ihm Wertschätzung eintrug.
Ab Bamberg griff Harald zu seinem Handy, um über Lautsprecher Jazz zu hören. Er und Jazz, er und Dizzy Gillespie, Keith Jarrett und Cannonball Adderley. Vor allem Letzteren mochte er, und da ganz besonders einen Titel, der höchst schwer zu bekommen ist und den er so gerne besäße.
In Nürnberg angekommen, machte sich Harald auf den Weg zu seiner Mutter in die Nordstadt. Er hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen, und genoss den milden Dezembertag. Jetzt noch durch das Vestnertor treten und dann wäre er auch schon da.
Doch da kam ihm ein Gedanke, siedend heiß, elektrisierend und das Große und Ganze auf die Probe stellend, auflehnend, Uwes Theorie herausfordernd. Lag 100 Meter von ihm entfernt nicht dieser Musikladen? Wenn die Welt, wie Uwe sagt, gerecht ist, dann müsste dort, weil sein Besuch bei Mutti doch zweifelsfrei ein echtes Opfer darstellt, ein Schatz auf ihn warten.
Und wenn ein Nehmen ein Geben bedeutet - dann muss ein Geben doch auch ein Nehmen ermöglichen. Oder etwa nicht?
Unsicher betrat Harald den Laden und entdeckte: das seltene Jazz-Stück. Hier lag es, Irrtum ausgeschlossen, digitalisiert und sogar verhältnismäßig günstig.
Die Welt ist gerecht.
Versöhnt mit dem nun Kommenden ging Harald Mutti entgegen. Mit Erstellung einer gedanklichen Liste noch fehlender Musikschätze.