Forchheims Dekan Emge über Corona: Verzicht wie noch nie, aber große Chance für die Kirche

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De Gottesdienste verändern sich wegen der Corona-Krise. Für den Forchheimer Dekan Martin Emge bieten sich damit auch Chancen für die Zukunft. Foto: Barbara Herbst
De Gottesdienste verändern sich wegen der Corona-Krise. Für den Forchheimer Dekan Martin Emge bieten sich damit auch Chancen für die Zukunft. Foto: Barbara Herbst
Predigen vor leeren Bänken: Martin Emge in der Stadtpfarrkirche St. Martin in Forchheim. Foto: Barbara Herbst
Predigen vor leeren Bänken: Martin Emge in der Stadtpfarrkirche St. Martin in Forchheim.   Foto: Barbara Herbst
 

Die christliche Gemeinschaft leidet unter Corona. Was das für die Gläubigen in Forchheim und der Fränkischen Schweiz bedeutet und warum diese Zeit auch eine große Chance für die Kirche sein kann, erklärt Dekan Martin Emge im exklusiven FT-Interview.

Herr Emge, wir müssen derzeit nie da gewesene Einschränkungen hinnehmen. Was heißt das für das kirchliche Leben?

Alles was für uns Standard ist, persönliche Seelsorge, Haus- und Krankenbesuche und unsere Liturgien, können wir nicht so machen, wie wir es kennen. Wegen der Sicherheitsvorschriften kommen wir nicht mehr in die Häuser und müssen unsere Kontakte auf andere Wege konzentrieren. Da bleiben Telefon, Internet und Schriftwege. Da experimentieren wir zur Zeit, holen uns Rückmeldungen und versuchen uns an die neue Situation anzupassen.

Um den Menschen ihren Gottesdienst nach Hause zu bringen, setzen sie auf Livestreams im Internet. Wie kommt das an?

Dieses Thema ist für uns ein Neuland. Es sind die ersten Livestreams, die ich jetzt aktiv miterlebe. Die Reaktionen sind positiv. Vor allem von jüngeren Leuten. Das verwundert nicht, da manche ältere Menschen nicht online sind. Aber dass auf diese Weise junge Leute neugierig werden, lässt neue Konstellationen entstehen. Da sitzt etwa eine Familie am Sonntag um 10 Uhr im Wohnzimmer am Rechner und erlebt den Gottesdienst mit. Das ist für mich eine beglückende Erfahrung. Natürlich gibt es schon lange solche Angebote, etwa der Öffentlich-Rechtlichen Sender oder des privaten kirchlichen Fernsehens. Aber es macht einen Unterschied, ob der Gottesdienst aus der Großstadt kommt oder aus der Heimatkirche.

Die Wurzeln der Kirche lagen im Häuslichen. Kann die Rückbesinnung auf die "Hauskirche" eine Chance für den aktiven Glauben sein?

Meine Wohnung wird tatsächlich zu einer Kirche. Das klingt ungewöhnlich, aber mein normaler Lebensraum wird stärker als bisher zu einem Gebetsraum. Oft ist das häusliche Gebet ein privatisiertes, das jeder für sich betet. Aber dass die ganze Familie zusammen ein Gebet spricht, sollte in christlichen Häusern zwar eigentlich selbstverständlich sein, wird aber für manche jetzt erst zu einer schönen neuen Erfahrung. In den Häusern liegt ja der Ursprung der Kirche - und jetzt erlebe ich das in den Wohnzimmern neu.

Aber viele Gemeinden klagen schon lange über leere Kirchenbänke und zu wenige Pfarrer - jetzt müssen die Menschen ihren Glauben auch noch notgedrungen im stillen Kämmerlein ausleben. Fürchten sie die Ausgangsbeschränkungen als Sargnagel des gemeinschaftlichen Gottesdienstes?

Da habe ich keine Angst. Die Leute spüren, dass es eine Notsituation ist. Ich könnte mir denken, dass wir mit dieser Form als Pfarreien einen Weg entdeckt haben, den wir weiter beschreiten werden. Auch nach Corona werden wir das Medium Internet stärker nutzen als bisher. Wir erreichen jetzt auch Leute, die sonst nicht kämen. Gehbehinderte oder Kranke zum Beispiel, aber auch Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Die Kirche vor Ort wird immer ein stärkerer Eindruck sein als das visuelle Angebot. Aber wir erschließen gerade einen neuen Weg, der unser Portfolio erweitert.

Sie sprechen von sich in der Krise auftuenden "Wachstumsfeldern für die Kirche"? Meinen Sie das damit?

Genau das meine ich. Ich erlebe, dass sich Kirche im Moment herausfordern lässt. Wir sind mit allen anderen in der gleichen Notsituation und jeder sucht Lösungswege, wie er das Beste aus dieser Situation macht. Da steckt auch für uns ein Wachstumspotenzial, wenn wir den medialen Weg optimieren.

Viele Einrichtungen gelten in der Krise als systemrelevant, weil sie unverzichtbar sind. Gehört die Kirche dazu?

Unbedingt. Vielleicht scheint es auf den ersten Blick so, dass sich Kirche zurückzieht, wenn wir keine normalen Gottesdienste mehr feiern. Aber die Menschen hören nur noch Corona, sie sind verängstigt. Es entsteht im Moment eine Hoffnungsleere, eine Sinnleere. Eine regelrechte Angst, die um sich greift. Die wird nicht durch eine Verordnung verbessert - da brauche ich eine Botschaft. Unsere Aufgabe ist es jetzt, an Gott zu erinnern und den Leuten Mut zu machen. Ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind.

Ganz konkret? Wie können Sie für Ihre Leute da sein?

Die Frage ist schon, wie erreiche ich sie. Unser gesamtes Netzwerk richtet sich neben der Spiritualität auf die Diakonie, die praktische Hilfe vor Ort. Wir fragen etwa in Krankenbriefen die Menschen konkret, wo sie Hilfe brauchen und welche Art von Hilfen sie in Anspruch nehmen wollen. Wo ist eine Not, wo wird unsere Hilfe gewünscht? Hier erhoffe ich mir auch, dass unsere Artikel und Aufrufe in der Zeitung helfen, diese Leute zu erreichen, die Hilfe brauchen. Wir haben 50 Millionen Christen in Deutschland - wenn diese Getauften wach sind und sich fragen, wo sie gebraucht werden, könnte sich etwas bewegen! Die Systemrelevanz zeigt sich dort, wo ein Christ aus dem Glauben heraus sozial zu wirken beginnt.

Stoßen Sie als Seelsorger in diesen Zeiten an ihre Grenzen?

Zur Zeit bin ich ein bisschen sprachlos, wenn ich die öffentlichen Meldungen anschaue. Und vor Ort erlebe ich Sprachlosigkeit, wenn sich die Menschen grob fahrlässig über die Vorschriften hinwegsetzen. Das macht mich auch wütend - das ist egoistisch und ungerecht.

Viele Gemeinden klagen seit Jahren über leere Kirchenbänke - braucht es da überhaupt ein Kontaktverbot? Abstand wäre ausreichend vorhanden.

Diese Frage wird oft diskutiert. Auch mich treibt sie um. Den Abstand könnten wir sichern, vor allem bei einem Werktagsgottesdienst. Aber wenn jemand zur Kommunion geht, müsste ich in den Nahkontakt treten, ihm die Hostie überreichen. Die Leute greifen nach einem Gebetbuch und stellen es zurück. Ich kann nicht ausschließen, dass sich das Virus so überträgt. Deshalb hat die Kirche die wohl schwerste Entscheidung ihrer Geschichte gefällt und die Gottesdienste abgesagt. Vor allem jetzt in der Karwoche haben die Menschen eine starke Sehnsucht zu Gott.

Bekommt die Auferstehungsgeschichte in dieser Zeit eine ganz besondere Bedeutung?

Schon die Fastenzeit: Die Verzichte, die uns jetzt abverlangt werden, sind größer als alles, was wir je gefastet haben. Das Osterfest steht dem eher negativen Aspekt als Freiheitsaspekt stark gegenüber. Das Hoffen darauf, wieder aufzustehen zu dürfen: feiern, Gemeinschaft erleben und dass es ein Ende der einschnürenden Leidsituation gibt. Ostern werden wir gerade in diesem Jahr als ein Fest der Hoffnung feiern.

Reden wir über Geld: Wie sehr schmerzen die ausbleibenden sonntäglichen Kollekten?

Ich habe kleine Gemeinden, die keine Rücklagen und gewinnbringenden Immobilien haben. Die brauchen die Sonntagskollekte, um ihre Personal bezahlen zu können. Die werden es sicher spüren. Bei größeren Pfarreien ist es nach kurzer Zeit noch nicht so existenzrelevant.

Wie kann das sein, dass Gemeinden ihren laufenden Betrieb auf Spendenbasis aufbauen müssen? Was ist mit der Kirchensteuer? Und: Gibt es finanzielle Hilfe aus Bamberg.

Ohne Kirchensteuer könnten wir im Personalbereich nicht mehr alle Angestellten beschäftigen und müssten noch stärker als bisher auf das Ehrenamt setzen. Unsere sozialen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft wären dann ernsthaft gefährdet. Auch im Bereich unseres Gebäudebestandes wären wohl drastische Einschnitte nötig. Rücklagen aus Bamberg sind begrenzt, zumal sie zum größten Teil der Alterssicherung unseres Personals dienen.

Nun stehen die Sonderkollekten von Misereor an. Wie steht es darum?

Es schmerzt, denn es wird Millionenausfälle geben, die die Ärmsten der Welt treffen wird.

Deshalb werben wir durch Veröffentlichung der Spendenkonten über Zeitung und Homepage. In meinen Pfarreien habe ich angewiesen, dass wir aus unserer Kirchenkasse selbst einen Betrag geben, damit die Spende nicht ausfällt.

In den letzten Jahren gab es einige negative Schlagzeilen: Reformverzug, Missbrauchsskandal - die Welle der Kirchenaustritte macht auch vor dem Seelsorgebereich Forchheim nicht Halt. Kommt jetzt Ihre große Zeit der Wiedergutmachung?

Wir erleben jetzt ein stärkeres Zusammenrücken. Die Not schweißt uns zusammen, wie wir das bis jetzt noch nicht erlebt haben. Die Situation öffnet uns die Augen für das, was wirklich wichtig ist. Die Sorge um den Menschen, sein soziales Gefüge und seine Menschenwürde stehen im Vordergrund. Das macht die Glaubwürdigkeit der Kirche aus. Die kirchenpolitischen Themen sind für mich eher nachgeordnet.

Aber die Welt wartet doch auf Ergebnisse?

Was den synodalen Weg betrifft, ist der Prozess offen gestartet. Der neue Vorsitzende der Bischofskonferenz schaut zuversichtlich nach Vorne. Ich bin überzeugt, dass wir eine Chance haben, weiterzukommen, wenn wir miteinander reden. Wir dürfen zwar die Weltkirche nicht aus dem Blick verlieren, sollten aber mutig nach vorne gehen und anstehende Reformen anpacken. Das ist jetzt dran.