"Chaostage" mit Günter Grass in Waischenfeld

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Der Vorsitzende der Gruppe 47, Hans Werner Richter, steht vor der Pulvermühle in Waischenfeld und zeigt ein Schild, das die Schließung der Gaststätte für das normale Publikum anzeigt. Archivfoto: Karl Schnörrer/dpa
Der Vorsitzende der Gruppe 47, Hans Werner Richter, steht vor der Pulvermühle in Waischenfeld und zeigt ein Schild, das die Schließung der Gaststätte für das normale Publikum anzeigt. Archivfoto: Karl Schnörrer/dpa
So sah es Ende der 1960er-Jahre in der Pulvermühle aus, als die "Gruppe 47" mit Günter Grass zu Gast war. Archiv: Reinhard Löwisch
So sah es Ende der 1960er-Jahre in der Pulvermühle aus, als die "Gruppe 47" mit Günter Grass zu Gast war. Archiv: Reinhard Löwisch
 
Die Pulvermühle bei Waischenfeld ist sehr idyllisch gelegen, wie ein Foto von 1969 verdeutlicht. Archiv: Reinhard Löwisch
Die Pulvermühle bei Waischenfeld ist sehr idyllisch gelegen, wie ein Foto von 1969 verdeutlicht. Archiv: Reinhard Löwisch
 
Günter Grass starb am Montag in Lübeck. Archivfoto: Markus Scholz/dpa
Günter Grass starb am Montag in Lübeck. Archivfoto: Markus Scholz/dpa
 

Der am Montag verstorbene Nobelpreisträger hat auch Spuren in der Region hinterlassen. Im Oktober 1967 war Grass mit der "Gruppe 47" in der Pulvermühle bei Waischenfeld zu Gast. Anton Sterzl (88) erinnert sich noch gut daran.

Der Tod von Günter Grass (87) am Montag in einer Lübecker Klinik lässt bei dem gebürtigen Waischenfelder Anton Sterzl (88) die Erinnerungen an die "Chaostage von Waischenfeld" wieder lebendig werden. Anfang Oktober 1967 tagte die "Gruppe 47", die wohl einflussreichste Literaturvereinigung der Nachkriegszeit, mit Günter Grass, Martin Walser, Siegfried Lenz, Reinhard Lettau, Günter Eich und Rudolf Augstein in der idyllisch gelegenen Pulvermühle bei Waischenfeld.

Gründer und Organisator der "Gruppe 47" war Hans Werner Richter. Er fungierte als Motor und Integrationsfigur der Vereinigung, deren Ziel literarisch ambitionierte, politisch engagierte Publikationen sein sollten. Auf den Tagungsort Pulvermühle im Landkreis Bayreuth wurde der 1993 verstorbene Richter durch Klaus Roehler, den Lektor von Günter Grass aufmerksam. Roehler hatte zumindest zeitweise in Forchheim gelebt. Richter entschied sich für das alte Wirtshaus, weil es so abgelegen war. Die streitbaren Literaten wollten unter sich sein.

Das letzte Treffen
So wurde der damalige "Pulvermüller" Kaspar Bezold vom 5. bis 9. Oktober 1967 zum Gastgeber der Literatenvereinigung mit rund 80 Teilnehmern. Es sollte ihr letztes Treffen sein, an das heute noch ein Schaukasten im Eingangsbereich des 1922 eröffneten Gasthauses erinnert. "Mit Fotos von Günter Grass und den anderen Teilnehmern wird dieses denkwürdige Ereignis dokumentiert", bestätigt der heutige Wirt der Pulvermühle, Michael Fink.

Fast 50 Jahre später kämen immer noch Zeitzeugen von damals, um vor der Vitrine in Erinnerungen zu schwelgen. "Dies ist ein Teil der Pulvermühle. Den haben wir beim Kauf übernommen und den wollen wir der Nachwelt erhalten", bekräftigt Michael Fink.

Das ist ganz im Sinn von Toni Eckert, dem Kulturreferenten des Landkreises Forchheim. Er will das literarische Schaffen in der Fränkischen Schweiz aufarbeiten. Dabei spiele das Treffen der "Gruppe 47" eine zentrale Rolle, bestätigt Eckert. Er kann sich nur vage an die Ereignisse vor den Toren Waischenfelds erinnern, denn Eckert war damals Gymnasiast in Bamberg.

Warnung von der Kanzel
Die Animositäten, die Grass, Eich, Lenz, Härtling und den anderen Intellektuellen entgegenschlugen blieben ihm nicht verborgen. "Bind Dein Besteck an, wenn die roten Dichter und Edelkommunisten kommen", hatten Waischenfelder dem "Pulvermüller" Kaspar Bezold geraten. Auch Pfarrer Johannes Völker warnte auf der Kanzel vor diesen Leuten. "Von denen man in der Fränkischen Schweiz aber wenig wusste", erinnert sich Anton Sterzl in seinem Buch "Die Franken".

Sterzl, Feuilletonredakteur beim Bamberger Volksblatt, der 1959 zur Kölnischen Rundschau gewechselt war und 1978 Chefredakteur der Aachener Volkszeitung wurde, hat den politisch stets gut informierten Kaspar Bezold zu dem Literaten-Treffen anno '67 interviewt. Deshalb ist nicht nur die Boykott-Resolution des Springer-Verlages verbürgt, die von den Autoren in der Pulvermühle unterzeichnet wurde, sondern auch die Vorliebe von Günter Grass für die Klöß des Pulvermüllers. "Sie hat der Nobelpreisträger ausdrücklich gelobt", erinnert sich Sterzl.

Vietcong-Fahne gehisst
Kaspar Bezold hat auch geschildert, wie sich der Zorn der Erlanger Studenten entlud, die teilweise vermummt in der Pulvermühle auftauchten und die Dichtergreise verhöhnten. Die Anarchisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) klauten Bezold die Bayernflagge und hissten stattdessen die Vietcong-Fahne. In diesem Zusammenhang wird Günter Grass mit dem Satz zitiert: "Ich weiß nicht genug vom Vietcong, um ihm den Sieg zu wünschen." Der beherzte Wirt indes erstritt sich die Bayern-Fahne zurück, auch ohne das Zutun der Literaten, die streitbarer waren, als das ihre Leserschaft vermutet hätte.

Die Fetzen flogen
Darüber verriet Kaspar Bezold: "Wenn der Frankenwein seine Wirkung getan hatte, wurde über den freiheitlichen demokratischen Sozialismus und den Weg dorthin diskutiert, dass die Fetzen flogen."

So muss das Treffen, an dem neben Günter Grass und anderen Autoren auch Klaus Rainer Röhl, der spätere Ehemann der Terroristin Ulrike Meinhoff teilgenommen hatte, tiefen Eindruck auf die Teilnehmer gemacht zu haben. So erinnerte Helmut Karasek als Redakteur der "Stuttgarter Zeitung" an dieses Treffen und Marcel Reich-Ranicki berücksichtigt das letzte Treffen der Gruppe 47 in der Pulvermühle in seinen Memoiren.

Im Fränkischen Tag vom 9. Oktober 1967 erscheint ein Artikel über die Studentenproteste. Ein stämmiger Brückenwärter habe darauf geachtet, dass kein Unbefugter die Lesungen im Anbau der Pulvermühle störte. Ob er dem Ansturm der Studenten gewachsen war, die die "Gruppe 47" aufforderten, nicht länger in ihrer politischen Passivität zu verharren und eine Enteignung der Springer-Presse verlangten, ist nicht überliefert.