Istanbul: von Kussverbot und Tränengas

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Fahriye Vollweiter verfolgt am Laptop die Entwicklungen in Istanbul. Foto: Max Kaltenhäuser
Fahriye Vollweiter verfolgt am Laptop die Entwicklungen in Istanbul. Foto: Max Kaltenhäuser
Polizisten gehen gewaltsam gegen unbewaffnete Demonstranten vor. Foto: p
Polizisten gehen gewaltsam gegen unbewaffnete Demonstranten vor.  Foto: p
 

Fahriye Vollweiter aus Herzogenaurach war selbst vor der Gewalt der Polizei in Istanbul auf der Flucht. Sie schildert ihre Erlebnisse und wie sie als Türkin die Situation einschätzt.

Mehrere Polizisten jagen einem unbewaffneten Demonstranten hinterher, treten brutal auf ihn ein und führen ihn anschließend blutüberströmt ab. Es sind Bilder wie diese, die Fahriye Vollweiter regelrecht schockieren. Dennoch sind diese traurigen Bilder derzeit Realität in ihrer Heimat. Rund um die Uhr verfolgt die Türkin das Geschehen in ihrer Heimatstadt Istanbul.

Vor dem Bildschirm ihres Laptops sitzend, aktualisiert Vollweiter im Minutentakt diverse Internetportale, um ständig auf dem Laufenden zu bleiben. Freunde und Familienmitglieder aus der Türkei versorgen sie regelmäßig mit weiteren schockierenden Fotos und Videos über Facebook und per E-Mail. Und obwohl sie im etwa 2000 Kilometer entfernten Herzogenaurach lebt, hat die studierte Sozialpädagogin Angst.
Angst um ihre Familie, ihre Freunde und ihre Heimat.

Erst Ende Mai war die 51-Jährige extra in die Türkei gereist, um ihre Mutter in einem ruhigeren, asiatischen Viertel zu besuchen. Von Polizeigewalt, Volksaufstand und wüsten Gewaltandrohungen durch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan war damals noch keine Spur.

Doch nur wenige Tage darauf sollte Fahriye Vollweiter Zeugin eines sich über die Stadtgrenze hinaus ausweitenden Generalprotests werden. Denn mit der Ankündigung Erdogans, den beliebten Gezi-Park für eine große Shopping- und Hotelanlage weichen zu lassen, brachte er nicht nur direkte Anwohner gegen sich auf. "Es war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Und so ist es passiert, dass aus einer Handvoll Protestanten ein ganzes Volk wurde", sagt Vollweiter, die selbst noch die ersten Tage dieser Demonstrationswelle miterlebte, ehe sie die Rückreise nach Deutschland antreten musste.

Zustände machen Sorge und Wut

Sie selbst konnte sich zu Beginn allerdings noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, mit der Menge auf der Straße zu protestieren: "Da denkt man anfangs dann schon an die eigene Sicherheit. Es schien mir sehr gefährlich. Aber als ich gesehen habe, mit welchem Mut die jungen Menschen auf die Straße sind, hat es uns nicht zuhause gehalten." Schließlich zog es sogar ihre 77-jährige Mutter und die Eltern ihrer Freunde auf die Straße.
Heikel wurde es erstmals am zweiten Demonstrationstag gegen das Regime um Erdogan. Auf dem Heimweg vom Gezi-Park musste Fahriye Vollweiter flüchten. Sie rannte vor den Wasserwerfern und dem Tränengas der türkischen Polizei davon. Ein Erlebnis, das die 51-Jährige wohl nie wieder vergessen wird: "Ich habe Polizeigewalt mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich selbst frage mich, woher dieser Hass der Polizisten gegen das eigene Volk kommt. Daher würde ich mir auch wünschen, dass die deutschen Medien ihren Fokus stärker darauf richten würden."

Protestanten sind unbewaffnet

Während die türkische Ärztekammer bereits kriegsähnliche Zustände beklagt, verfolgt die zweifache Mutter aus Herzogenaurach die aktuelle Entwicklung der Zustände in Istanbul mit Sorge und Wut. Von einem Bürgerkrieg möchte Fahriye Vollweiter aber nicht sprechen, schließlich seien sämtliche Protestanten und Regimegegner unbewaffnet. Jedoch habe sich die Lage in den letzten Tagen extrem radikalisiert.

Immerhin hätten die ersten Demonstrationen äußerst friedlich stattgefunden. "Alles hat sehr menschlich angefangen. Mütter haben mit ihren Kindern im Park protestiert und gleichzeitig gespielt und gebastelt. Zeitgleich fanden Konzerte statt. Jetzt herrscht am gleichen Ort Gewalt und Chaos. Erdogan versteht sein Volk einfach nicht", klagt Vollweiter, die nunmehr seit 24 Jahren in Deutschland lebt. Besonders die diktatorischen und streng islamischen Züge des Politikers missfallen den demonstrierenden Türken. Diese sehen sich in ihrer Meinungsfreiheit von Erdogan enorm eingeschränkt, der immer stärkeren Einfluss auf den Alltag seiner Mitmenschen nehme. Von einem generellen Kussverbot an Metro-Stationen bis hin zur Unterdrückung von Oppositionellen - das alles wollen sich die Demonstranten in der Türkei nicht mehr gefallen lassen. Allerdings darf dabei nicht jeder seine Meinung zu diesem Thema frei äußern. Besonders Beamte, wie beispielsweise Lehrer oder Mitarbeiter der staatlichen Medien, halten sich, aus Angst, ihren Job zu verlieren, zunehmend zurück.
Aber inwiefern betreffen die Ereignisse am Bosporus die in Deutschland lebenden Türken? Auch dazu hat sich Fahriye Vollweiter, die in Nürnberg Deutschkurse für türkische Frauen und Mädchen abhält und gemeinsam mit dem Jugendamt Integrationshilfe in türkischen Familien leistet, in den letzten Tagen ein Bild machen können. Begeistert ist die 51-Jährige besonders von den zahlreichen Solidaritätsmärschen in Städten wie Nürnberg: "Die Menschen hier wissen, dass Meinungsfreiheit zu den Grundrechten gehört. Die meisten Türken in Deutschland unterstützen diese politische Bewegung in der Heimat." Obwohl Vollweiter stolz auf den jungen Aufstand ihrer Landsleute ist, blickt sie der politischen Zukunft ihres Heimatlandes dennoch mit Bauchschmerzen entgegen. Selbst wenn es gelingen sollte, einen Regimewechsel zu erzwingen, würden geeignete politische Nachfolger fehlen.
Die aktuelle Opposition sei - ihrer Meinung nach - zu schwach, um den Hoffnungen der Türken gerecht zu werden. Neue Parteigründungen scheitern regelmäßig am hohen finanziellen Aufwand, der gesetzlich vorgegeben ist. "Die Frage nach dem Danach, ist ein großes Problem. Aber die Leute wollen Erdogan stürzen. Unbedingt."