Coburg untersucht Nazi-Vergangenheit - Akten der IHK spurlos verschwunden

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Hermann Göring (zweiter von links) am 26. Mai 1927 zu Besuch in Coburg. Die Nationalsozialisten sprachen der Stadt besondere Bedeutung zu ("Mythos Coburg"). Hans Dietrich (ganz rechts) war einer der führenden Coburger Nationalsozialisten. Foto: Staatsarchiv Coburg, VI 8-69 (Postkarte)
Hermann Göring (zweiter von links) am 26. Mai 1927 zu Besuch in Coburg. Die Nationalsozialisten sprachen der Stadt besondere Bedeutung zu ("Mythos Coburg"). Hans Dietrich (ganz rechts) war einer der führenden Coburger Nationalsozialisten. Foto: Staatsarchiv Coburg, VI 8-69 (Postkarte)

Es geschieht selten, dass der Coburger Stadtrat einem Referenten von Anfang bis Ende des Vortags aufmerksam und mucksmäuschenstill zuhört. Am Donnerstag war das der Fall. Da ging es um die Nazi-Vergangenheit der Stadt. Und verschwundene Akten der IHK.

Historikerin Eva Karl erforscht im Auftrag der Stadt die Geschichte Coburgs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Donnerstag gab sie einen Überblick über erste Ergebnisse und die weiteren Schritte. Die Arbeit, für die Karl bislang über 250000 Seiten aus Archivakten gelesen hat, soll 2021 in ein Buch münden.

1925 dreiköpfige Fraktion der Nationalsozialisten im Stadtrat

Eva Karl will die Geschichte auch in Form von exemplarischen Einzelgeschichten erzählen. Aber sie verfolgt dabei grundsätzliche Fragestellungen, zum Beispiel: Wie bemächtigten sich die Nationalsozialisten des "Herrschaftsraums" der Stadt, also des Bereichs, der auf die Lebenswirklichkeit aller direkt und indirekt einwirkt?

Sie schilderte das im Stadtrat am Beispiel des Stadtrats von damals: Schon 1925 gab es eine dreiköpfige Fraktion von Nationalsozialisten unter Führung von Franz Schwede. Die drei merkten schnell, dass sie in der von bürgerlichen Kräften dominierten Stadtratsarbeit inhaltlich nicht viel mitreden konnten. Also versuchten sie, Aufmerksamkeit zu erregen, stellten Schaufensteranträge oder verzögerten die Sitzung mit Geschäftsordnungstricks.

Dem "Mythos Coburg" gerecht werden

Fünf Jahre später waren die Nationalsozialisten schon in der Mehrheit, stellten einen Bürgermeister. "Der Stadtrat war eine Bühne, die Zuschauerreihen waren voll", schilderte Karl die Szenerie. Wegen der vielen Zuschauer wurden Schaufensterreden gehalten, die Sonderrechte aus dem Beitrittsvertrag zum Kampf gegen "das System" missbraucht", um sich als Wahrer Coburger Interessen zu inszenieren.

1935 schließlich war ganz Deutschland unter nationalsozialistischer Führung. Unter Bürgermeister Franz Schwede, Coburgs führendem Nationalsozialisten, war die Verwaltung angehalten, dem "Mythos Coburg" gerecht zu werden. Denn 1922, beim "Deutschen Tag" in Coburg, hatten Adolf Hitler und seine Partei ihren ersten überregional beachteten Auftritt.

"Schauer bei Gedanken an AfD"

"Der Vortrag hat neugierig gemacht und mir einen leichten Kloß in den Hals gegeben", sagte Barbara Kammerscheid (SBC). "Mir ist ein Schauer über den Rücken gelaufen, wenn ich an die AfD denk'", sprach Martina Benzel-Weyh (Grüne) das aus, was auch andere dachten. Nicht nur sie sah Parallelen zwischen den Geschehnissen im Coburger Stadtrat 1930 und dem, was sich wegen der AfD heute manchmal im Bundestag abspielt. "Sowas darf nicht wieder passieren", sagte Bundestagsabgeordneter und Stadtrat Hans Michelbach (CSU). Doch Gert Melville, Leiter der Historikerkommission, die Eva Karls Arbeit begleitet, ließ wenig Hoffnung: "Unser Motiv ist, Geschichte präsent zu machen, damit so etwas nicht wieder passiert. Aber leider wiederholt sich die Geschichte immer wieder."

Akten der IHK zu Coburg verschwunden

Auf Nachfragen von Stadtratsmitgliedern erläuterte Eva Karl unter anderem, dass die Rolle der Wirtschaft dann mit untersucht werde, wenn es um die Themen Zwangsarbeit und Arisierung von Betrieben gehe. Der Aktenbestand sei vielfach lückenhaft.

Unter anderem fehlen die Akten der IHK zu Coburg. Die seien nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 von den Amerikanern erst in die USA gebracht und dann dem Coburger Staatsarchiv übergeben worden. Von dort seien sie nachweislich an die IHK zurückgegangen, sagte Eva Karl. Eigentlich sollten die Akten im bayerischen Wirtschaftsarchiv liegen, aber dort kamen sie nicht an. "Der Aktenbestand muss irgendwo verloren gegangen sein, oder er liegt noch in irgendeinem Keller."