Grattstadt: Ein Leben an der innerdeutschen Grenze

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Ortwin Großmann aht sich mit der Historei seines Ortes vertraut gemacht und eine Ausstellung über Grattstadt zusammengestellt, die während der Jubiläumsfeierlichkeiten angeschaut werden kann. Foto: Gabi Bertram
Ortwin Großmann aht sich mit der Historei seines Ortes vertraut gemacht und eine Ausstellung über Grattstadt zusammengestellt, die während der Jubiläumsfeierlichkeiten angeschaut werden kann. Foto: Gabi Bertram
Die steifen Zeiten des Kaiserreichs: Minna Scheler mit Spitzenkragen und Puppenwagen. Repro: Gabi Bertram
Die steifen Zeiten des Kaiserreichs: Minna Scheler mit Spitzenkragen und Puppenwagen. Repro: Gabi Bertram
 
Ortwin Großmann hängt noch die letzten Bilder auf. Foto: Gabi Bertram
Ortwin Großmann hängt noch die letzten Bilder auf. Foto: Gabi Bertram
 
1971 wurde der Schulbetrieb in Grattstadt eingestellt. Ortwin Großmann (l.) gehörte noch zum letzten Jahrgang. Repro: Gabi Bertram
1971 wurde der Schulbetrieb in Grattstadt eingestellt. Ortwin Großmann (l.) gehörte noch zum letzten Jahrgang. Repro: Gabi Bertram
 

Der kleine Bad Rodacher Stadtteil Grattstadt feiert am Wochenende sein 1200-jähriges Bestehen. In einer historischen Fotoausstellung nimmt der im Dorf aufgewachsene Ortwin Großmann die Gäste mit auf eine Reise durch Zeit und Raum.

Zur 1175-Jahrfeier hat Ortwin Großmann eine Dorfchronik geschrieben. Damals, erinnert er sich, hatte man schon zwei Jahre vorher mit der Planung des Jubiläums angefangen und sich, bei Gott, nicht ausrechnen können, dass 1989 die Grenzen zur nur ein paar hundert Meter weiter gelegenen DDR aufgehen könnten. Die Grattstadter standen vor völlig neuen Tatsachen, es gab plötzlich mehr Ortseingänge und viel mehr Gäste.

Jetzt, 25 Jahre später, noch eine Ortschronik zu verfassen, sagt Großmann, sei nicht sinnvoll gewesen. Denn viel habe sich ja nicht geändert im kleinen Dörfchen, das eher von Jahr zu Jahr ein Stückchen ausstirbt.

Männer mit Pfeifen, ein Schwätzchen auf der Bank

Ein braves Dorf ist dieses Grattstadt, eigentlich nichts Spektakuläres, ein Bauerndorf ohne Adelssitz oder Schloss.
Aber es sind die Menschen, die das Dorf über Jahrhunderte prägten, die Geschichten erzählen, die sich zur Geschichte fügen. Ortwin Großmann ist hier geboren. Seit sieben Generationen lebt die Familie in Grattstadt. Die Grenze quasi gleich hinterm Gartenzaun hat in seine Kinder- und Jugendzeit gehört wie die Kühe auf den Wiesen, die Männer mit den Pfeifen, die sich nach getaner Arbeit abends vorm Wirtshaus trafen und ein beschauliches Bild abgaben, oder die Frauen, die auf der Bank vorm Haus schwatzten.

Bedrohlich hat Ortwin diesen Grenzzaun als Kind nicht empfunden. Als er älter wurde, änderte sich das. Irgendwie, sagt er, habe sich das alles unnatürlich angefühlt. Wenn die Familie die Verwandten in Veilsdorf besuchte, musste sie über den Grenzübergang Eisfeld. "Das war ähnlich, wie einen Hochsicherheitstrakt zu betreten", erzählt Großmann und erinnert sich noch immer mit Empörung im Bauch an eine rothaarige Grenzpolizistin, die die Westbesucher aufs Ärgste zu schikanieren wusste.

Großmann hat bei den Großeltern nachgefragt

Mit 15 Jahren hat Ortwin angefangen, sich für die Dorfgeschichte zu interessieren, war neugierig geworden durch die Erzählungen der Großeltern, wollte Familiengeheimnisse aufdecken. Da hat sich der Jugendliche eine eigene Taktik zurechtgelegt, hat zugehört, das Erzählte weiter erzählt, das dann immer korrigiert und vervollständigt wurde. Ob und welche Familiengeheimnisse er herausgefunden hat, darüber schweigt des Chronisten Höflichkeit.

Als das Jubiläum vor 25 Jahren nahte, begann Ortwin Großmann, Bilder zusammenzutragen, startete Aufrufe, klingelte an den Haustüren. Um die 200 Fotos sind es geworden.

Bis zu 120 Jahre gehen die gezeigten Bilder in die Vergangenheit zurück

Rund 120 Jahre der Ortsgeschichte sind im Bild festgehalten, vorher gab's keine Bilder oder keine mehr. Jahrzehnteweise hat Großmann die Geschichte gegliedert und beginnt mit der "guten alten Zeit" von 1895 bis 1900, wo Dorf- und Familienidylle den Alltag bestimmten und die Zeit beschaulich vorbeizog. Um die 40 Bauernhöfe hat es gegeben, und freilich war die Arbeit hart, dafür die Gemeinschaft umso fester. Die Steifheit des Lebens in der Kaiserzeit spiegelt sich in den Schulkinder- oder Honoratiorenbildern wider: gestärkte Spitzenkragen und Gesichter ohne Mimik. Die Elfriede auf dem Kinderfestfoto aus den "Goldenen 20ern" lebt noch. Sie ist heute 99. Und die Erna ist auch noch da. Aber es war auch die Zeit der Weltwirtschaftskrise, und auf dem Dorf war oft die Ziege die einzige Ernährerin. Die letzte Braut in Schwarz war 1934 Emmi Machold, und Horst Schunk wird 1933 noch traditionell von der Hebamme zum Taufbecken getragen.

Vom Krieg hatten die Grattstadter nicht viel mitgekriegt, sieht man von den jungen Männern ab, die eingezogen wurden. Da gibt es Urlaubsfotos von Soldaten mit der Familie und das Verlobungsbild von Jenny und Ernst, das letzte Bild von Ernst, der nicht zurückkam. Verschont geblieben ist das Dorf auch vor Bombenangriffen, anders als Lempertshausen oder Roßfeld. Als die Amis am 8. April 1945 von Veilsdorf kommend durch Grattstadt zogen, hatte einer vorher die weiße Fahne auf dem Kirchturm gehisst.

Sonja Dorscht und Elfriede Fischer stehen vor dem ersten Schild, das die Zonengrenze anzeigt. Und plötzlich waren die Nachbardörfer Hetschbach, Veilsdorf und Harras in einer anderen Welt.

Die Vroni und der Franz heirateten 1950 in den Wirtschaftswunderjahren, und es war die erste Hochzeit in Grattstadt zwischen einer Einheimischen und einem Flüchtling. Sängerfest und Fahnenweihe, die typischen Triete an den Häusern, die später zugebaut wurden,, das erste Auto im Dorf, das der Lörtzinger Karl direkt vom Werk abgeholt hatte, die Spezialisierung in der Landwirtschaft und die Milchsammelstelle, Hausschlachtung und Feuerlöschteich, der 1953 angelegt wurde und von findigen Grattstadtern gleich zu Bootsfahrten genutzt wurde, Wirtshaus und Kramladen von Max Schunk, bei dem auch der erste Fernseher stand, vor dem das halbe Dorf 1969 die Mondlandung verfolgte. Da war auch Ortwin Großmann dabei. - Jedes Bild erzählt eine Geschichte, wie die vom jahrzehntelang währenden Wasserkrieg in Grattstadt oder von der Zeit des Kalten Krieges mit Stacheldraht und Wachturm.

Auch ein bisschen verklärte Dorfromantik

Ortwin Großmann kann sich festhalten und festerzählen an den alten Bildern, die - egal in welcher Zeit - so viel Dorfleben ausstrahlen und auch ein bisschen verklärte Dorfromantik. Dazu gehören die Nylon-Kittelschürzen als die Tracht der 80er-Jahre genauso wie das Doppelkopfspiel oder die Harraser Musikanten, die eines Abends völlig überraschend im Wirtshaus auftauchten. Aus den Bauern wurden "Mondscheinbauern", was früher die Erna mit zwei Kühen an drei Tagen auf dem Feld schaffte, schafft heute die Katrin mit moderner Technik in zwei Stunden. Die Arbeit ist leichter geworden, aber das Dorfleben auch ärmer, meint Großmann. Auch deshalb hat er die Zeit zwischen 2000 und 2009 die verlorenen Jahre genannt. "Nix passiert, und die kleinen Bauern haben gegen die EU verloren." Viele Häuser stehen leer, beklagt Großmann, die Bänke vor den Häusern bleiben leer, Vereine leiden an einer überalterten Mitgliederstruktur, und die Friedhofskultur nennt der Chronist erschreckend. Er hat ein Friedhofsbuch, beginnend von 1895, angelegt, mit Fotos, soweit vorhanden: "Damit die Menschen nicht vergessen werden."

Mit seiner Ausstellung will Ortwin Großmann nicht alte Zeiten verherrlichen, aber er will die Leute schon zum Nachdenken anregen, was aus dem Dorf geworden ist. Er selbst vermisst schon die alte Gemeinschaft, das Zusammenleben der Generationen, Arbeit, die verbindet und nicht trennt. Irgendwie hört man schon die Alten, die vor den Bildern stehen, und die Erna oder die Olga, die Gertrud oder die Gisela wiedererkennen oder gar sich selbst - und ein bisschen Wehmut wird dabei sein, weil die Jugend alle Zeit verklären lässt.