Coburg lässt seine Vergangenheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforschen. Dafür ist viel Arbeit in den Archiven nötig.
Ein seriöser Historiker kommt an den Archiven nicht vorbei. Das sagt Professor Gert Melville, Experte für die Geschichte des Mittelalters, und er hat zusammengerechnet wohl einige Lebensjahre in Archiven verbracht. "Quellenstudium" nennen das die Historiker, wenn sie sich in alte Handschriften vertiefen oder unsortierte Aktenbündel Blatt für Blatt lesen und den Inhalt erfassen.
"Archive halten potenziell Informationen bereit - es liegt an den Historikern, daraus ein Wissen zu vermitteln", sagt Melville. Im Coburger Staatsarchiv lagern rund 5000 Akten aus Spruchkammerverfahren, in denen sich die Beschuldigten nach dem Zweiten Weltkrieg für ihr Engagement für die Nazis rechtfertigen mussten. Jede dieser Akten umfasst im Durchschnitt 100 Blatt, sagt Archivleiter Alexander Wolz. Das meiste davon sei noch nie systematisch aufgearbeitet worden.
Das tut derzeit Eva Karl, die im Auftrag der Stadt die Coburger Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforscht, mit besonderem Schwerpunkt darauf, wie Coburg sich so früh zu einer Hochburg der Nationalsozialisten entwickeln konnte. Die Nazis hatten hier ab 1929 eine Mehrheit im Stadtrat und stellten ab 1931 den Oberbürgermeister.
Erstmals in Coburg von sich reden machte Adolf Hitler mit seiner Partei im Oktober 1922, als er mit seiner SA im Sonderzug von München zum Deutschen Tag des Schutz- und Trutzbunds anreiste und in Marschkolonne in die Stadt einzog. Dass Hitler in der zersplitterten rechts-völkischen Parteienlandschaft die Oberhand behalten würde, war damals noch längst nicht klar, sagt Alexander Wolz. "Erich Ludendorff war damals deutlich populärer als Hitler." Aber Hitlers Rede in Coburg hörte sich auch der ehemalige Herzog Carl Eduard an, und schon im Januar 1923 wurde die Coburger NSDAP-Ortsgruppe gegründet.
Dass der Deutsche Tag 1922 eher im Gedächtnis blieb als die davor und danach, liegt daran, dass Hitler selbst ihn später zum Mythos machte, sagt Professor Melville. "Jede Institution braucht so einen Gründungsmythos." Weitgehend unbekannt blieb dagegen, dass die Arbeiterschaft aus dem Coburger Umland sehr wohl in der Lage gewesen wäre, sich den Nazis entgegenzustellen. "Aber sie waren nicht so gut organisiert wie die Rechten, sie wollten nicht bis zum Äußersten gehen, und sie hatten nicht so die Sympathie der Bevölkerung", fasst Alexander Wolz zusammen.
2016 erst erhielt das Coburger Staatsarchiv Akten aus dem Landespolizeiarchiv. Wolz löste die Aktenbündel auf, legte Einzelakten an, und fand zum Beispiel Dokumente, die belegen, dass die Polizei auf den Deutschen Tag 1922 vorbereitet war - zumindest in einer Hinsicht: "Die Polizei hatte überall Späher, weil sie Angst hatte, dass die Arbeiterschaft aus der Umgegend kam."
Das sind einzelne Erkenntnisse aus einzelnen Akten. Erst die Verbindung zwischen den Akten und Dokumenten, die gar nicht mal alle in Coburg lagern müssen, schafft historisches Wissen, doziert Professor Melville. Dabei geht es nicht nur amtlich erfasste Vorgänge. Auch Erzählungen und Zeitungsartikel, "Meinungen und Stimmungsberichte" seien den Historikern wichtig, weil sie Aufschluss darüber geben, wie die Tatsachen in ihrer Zeit wahrgenommen und empfunden wurden, sagt Melville. "Da kann auch eine Todesanzeige eine hervorragende Quelle sein."