Coburger Erziehungsberater: Die eigene Wahrheit erkennen

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Dieter Schwammlein: "Mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen zu können, hat auch etwas mit gelebter Wahrheit zu tun. Es bedeutet, ich muss keine falsche Rolle spielen. Ich stehe zu mir." Foto: Christiane Lehmann
Dieter Schwammlein: "Mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen zu können, hat auch etwas mit gelebter Wahrheit zu tun. Es bedeutet, ich muss keine falsche Rolle spielen. Ich stehe zu mir." Foto: Christiane Lehmann

Wie Kinder zu starken Persönlichkeiten reifen und warum kleine Lügen in der Pubertät dazu gehören, erläutert Erziehungscouch Dieter Schwämmlein im Gespräch.

Menschen lügen. Immer mal wieder. Manche würden es schwindeln nennen oder es mit einer "Ausrede" abtun. So ist das. Davon ist Dieter Schwämmlein, Erziehungsberater überzeugt. Auch er selbst erinnert sich gut an die ein oder andere Situation in seinem Leben, in denen er zur "Notlüge" gegriffen hat. Und sei es nur, um dem Vater in seinen Leistungsansprüchen gerecht zu werden. Da waren eben Vokabeln gelernt, obwohl er sie nicht einmal angeschaut hatte.

Und manchmal hat er sogar seine eigenen Kinder genötigt, nicht die Wahrheit zu sagen. Wenn das Telefon geklingelt hat und er seinem Sohn bat, den Hörer abzunehmen und zu sagen, er sei nicht da. "Da war ich kein gutes Vorbild", gibt er zu. Natürlich könne man dem Kind danach erklären, warum diese Notlüge jetzt wichtig war. Aber im Alltag reagieren wir eben nicht immer perfekt.

Ein gesundes Gefühl für die Wahrheit zu bekommen, gehöre zur Persönlichkeitsentwicklung eines jeden Menschen dazu. Die Pubertät ist der Zeitpunkt, in dem Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand stehen. "Jugendliche experimentieren in dieser Zeit, loten aus und testen ihre Grenzen", sagt der erfahrene Therapeut. Am Ende stehe das eigentliche Ich. Wie wahrhaftig und gefestigt die Persönlichkeit letztendlich ausfällt, hänge natürlich auch von den Eltern und deren Reaktionen ab. Wie gehe ich mit Schwächen um? Dürfen Fehler gemacht werden? Muss ich ständig perfekt sein? Was passiert, wenn ich lüge? - Fragen, deren Antworten sich prägend auswirken.

Die Absicht hinterfragen

Felix, 8 Jahre alt, hat keine Lust auf die Schule. Er bockt schon morgens und am Nachmittag sagt er immer, er habe keine Hausaufgaben auf. Wenn seine Mutter ihn fragt, hat er immer schon gelernt. Er schwindelt. Aber warum? "Wichtig ist, dass die Eltern dahinter schauen. Die Absicht ist das entscheidende", sagt Schwämmlein. Vielleicht hat der Junge Probleme mit Klassenkameraden, vielleicht sitzt er nur am falschen Platz, vielleicht ist er aber auch überfordert und kann gar nicht leisten, was von ihm erwartet wird. Oder Felix ist einfach faul - und braucht tatsächlich strenge Vorgaben. Das herauszufinden, ist Aufgabe der Eltern.

"Mit Gelassenheit kommt man in solchen Momenten weiter", ist der 69-jährige Erziehungsexperte überzeugt. Gar nicht so einfach, vor allem, weil Felix' Schwester Julia mit ihren 15 Jahren in der Krise steckt. Sie fühlt sich hässlich und zu dick, will auch nichts mehr essen. "Diese Entwicklungskrisen kommen immer häufiger vor", weiß der Sozialpädagoge. Gerade Mädchen können die Erwartungen, die die Werbung, die sozialen Netzwerke und das Fernsehen suggerieren, nicht erfüllen. Ihre Wahrheit - was schön ist - ist rein subjektiv. Sich zu finden und selbstbewusst zu definieren, sei schwerer geworden. Die Mädchen beginnen eine Rolle zu spielen. "Mit der Wahrheit beziehungsweise mit der Realität hat das dann weniger zu tun", gibt Schwämmlein zu bedenken.

Scheinwelten aufdecken

Eltern, die die Scheinwelt erkennen, in der sich ihre Kinder bewegen und den Betrug aufdecken, helfen ihren Kindern, einen guten Weg einzuschlagen. Gerade im Hinblick auf Markenklamotten können Eltern Vorbild sein. ("Brauche ich das wirklich?") "Vater und Mutter müssen sich nicht darstellen. Wenn sie es schaffen, dass ihre Kindern ein sinnerfülltes Leben führen, haben sie ihnen die schönste Wahrheit überhaupt vermittelt", wird der Familientherapeut philosophisch. Wer lebt, ohne Mensch und Umwelt bewusst zu beschädigen, erlebe so etwas wie Schöpfungswahrheit.

Gute Erziehung habe auch etwas mit Kritikfähigkeit zu tun. "Wer gelernt hat, sich abzugrenzen, eigene Standpunkte zu entwickeln und weiß, was ihm selbst gut tut", lebt in einer "gesunden Wahrheit", bleibt glaubwürdig.

Glaubwürdig wollen auch Eltern gegenüber ihren Kindern sein. Doch manchmal wissen sie nicht, ob sie ihre Kinder mit der Wahrheit konfrontieren dürfen. Ella, die kleine Schwester von Felix und Julia, weiß, dass ihre Oma krank ist. Aber sollen die Eltern der Vierjährigen sagen, dass die Oma bald stirbt? "Jede Wahrheit, die letztendlich belastend ist, hat ihren Preis: Sie tut weh", gibt Schwämmlein zu Bedenken. Doch wird der Schmerz gemeinsam bearbeitet, gewinne jeder eine neue Erkenntnis und könne daran wachsen. Konkret heißt das: Ja, Ella darf ruhig wissen, dass die Oma bald sterben wird. Kinder könnten damit oft viel besser umgehen, als man meint, sagt Schwämmlein. Sie leben im Hier und Jetzt, was ihnen hilft die Realität anzunehmen. "Alles, was einen emotional tief bewegt, lässt einen reifen und wachsen", ist Schwämmlein überzeugt.

Anders ist es bei Erlebnissen, die nur schwer zu verarbeiten sind. Besteht die Gefahr, dass ein Kind durch die Konfrontation mit der Wahrheit traumatisiert wird, muss mit viel Feinfühligkeit vorgegangen werden. Hat ein Kind erst mal Bilder im Kopf, die es nicht mehr los wird, beginnt ein langer Verarbeitungsprozess. Das weiß Dieter Schwämmlein nur zu gut. In seiner Arbeit mit Flüchtlingskindern hat er erlebt, wie aus erlebter Realität traurige Wahrheit wurde: "Daran haben die Kinder lang zu knabbern."