Ein Leben nach Plan, Ritualen und Regeln

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Julia, die ein außergewöhnlicher Mensch ist und ein außergewöhnliches Leben führt. Foto: Petra Mayer
Julia, die ein außergewöhnlicher Mensch ist und ein außergewöhnliches Leben führt. Foto: Petra Mayer
Dieter Sauer und seine Tochter Julia, die unter Autismus leidet.
Dieter Sauer und seine Tochter Julia, die unter Autismus leidet.
 

Die Bambergerin Julia Sauer ist autistisch. Eine Herausforderung für ihre Eltern, die an die Öffentlichkeit gehen, um anderen Angehörigen in ähnlichen Situationen beizustehen.

"Ja, meine Tochter ist anfangs sehr zurückhaltend. Julia spricht meist nicht mit Fremden", meint Dieter Sauer. "Julia spricht nicht mit Fremden", wiederholt die 25-Jährige und sucht erstmals kurz den Augenkontakt, um den Blick dann gleich wieder ab- und ihren Eltern zuzuwenden.

"Mit vier Jahren war unsere Kleine ein völlig normales Kind, nur eben stumm - kein erstes Wort, kein Mama, kein Papa", erinnert sich Waltraud Sauer.

Eine Ärztin tippte auf Autismus und verwies die Familie an einen Kollegen, der den Verdacht abklären sollte. "Der nächste Mediziner war anderer Meinung, so dass für uns eine Odyssee begann, bis die Diagnose nach drei Jahren endlich feststand: Julia ist autistisch."


Falsche Vorstellungen

Eine Diagnose, die Dieter Sauer anfangs "wie einen Schlag ins Gesicht empfand". Damals, als der heute 64-Jährige noch nichts über die
Entwicklungsstörung wusste, über die er nun seit Jahren als Vorsitzender des oberfränkischen Vereins zur Förderung von Menschen mit Autismus aufzuklären sucht.

"Es gibt noch so viele falsche Vorstellungen, die gerade Fernsehfilme und Dokumentationen über extreme Fälle vermitteln", sagt der Bamberger, der anderen Eltern Mut machen möchte.

"Falsche Vorstellungen", wiederholt Julia. Dabei ist eine Behandlung sehr wohl möglich, um Kinder an der Außenwelt teilnehmen und zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln zu lassen - auf ihre Art und Weise.

Zu ihrer Mutter hat Julia eine besonders intensive Beziehung, mehr noch als zum Vater und ihrem Bruder Roman, der am Karlsruher Institut für Technologie als Mathematikprofessor eine leitende Position bekleidet. Auch die Autistin arbeitet inzwischen in einer Lebenshilfe-Werkstatt, nachdem sie die Bertold-Scharfenberg-Schule besucht hat.

"Eine Regelschule kam nicht in Frage, weil Julia lernbehindert ist", so Waltraud Sauer. Was keineswegs bei allen Autisten der Fall ist, nachdem das Spektrum der Betroffenen von hoch begabten Menschen bis hin zu Patienten mit geistiger Behinderung reicht.


Eine "Inselbegabung"

"Viele Autisten haben eine Inselbegabung", berichtet Dieter Sauer. "Eine Inselbegabung", wiederholt Julia, die sich ein Kalenderjahr nur ansehen muss, um noch Monate später alle Wochentage dem jeweiligen Datum zuordnen zu können.

Klavierstunden nimmt die 25-Jährige, die ein Gespür für Melodien, aber nicht für die Gefühle anderer Menschen hat; sie kann sich schwer in sie hineinversetzen. Freundschaften zu schließen fällt der Bambergerin, die auf ihre Mutter und den Vater fixiert ist, nach wie vor schwer. Aber sie lernte, mit anderen umzugehen, mehr und mehr - dank der Nürnberger Autismus-Ambulanz, zu der Julia längst auch ohne Begleitung der Eltern ganz selbstständig mit dem Zug fährt.

Überhaupt ist Julias Welt von festen Regeln und Gewohnheiten geprägt, auf die sich die Eltern eingestellt haben. "Schon als kleines Mädchen reagierte unsere Tochter panisch, wenn eine Haarbürste nicht am üblichen Ort war oder ich beim Aufräumen das Puppenhaus verrückt habe", erinnert sich Waltraud Sauer.

Bis heute kommt die 25-Jährige nicht mit Veränderungen klar. "Gehen wir beispielsweise essen, sitzen wir am immer gleichen Platz, nehmen den immer gleichen Hin- und Heimweg, Parkplatz etc." Julias Tag beginnt nach den immer gleichen Abläufen, im immer gleichen Tempo.
"Steht der Bus schon vor der Tür, müssen alle Jackenknöpfe dennoch langsam, der Reihe nach, wie sonst geschlossen werden", sagt Dieter Sauer. "Geschlossen werden", wiederholt Julia: "Echolalie", erklärt ihr Vater an dieser Stelle.

Auch das ist bei Autismus zuweilen eine Begleiterscheinung. Wobei es sich aber keineswegs nur um das sinnlose Nachplappern von Wörtern handelt, sondern einen Ansatz zur Kommunikation, der sich Außenstehenden nicht leicht erschließt.


Zahlen kaum erfasst

Ja, Julia ist in vielerlei Hinsicht anders, wie zahllose weitere Autisten, die kaum erfasst sind. Unter 1000 Menschen sind sechs bis sieben von der Entwicklungsstörung betroffen, wie der Bundesverband schätzt. Bei vielen von ihnen werden die Symptome aber missgedeutet.

"Es gibt Menschen, die erst im Erwachsenalter erkennen, dass sie Autisten sind - wie eine Ärztin, die ich auf einer Fortbildungsveranstaltung traf", so Dieter Sauer.

Aber darum geht es dem aus einer Elterninititative entstandenen Verein eben: Über Autismus aufzuklären, Hilfen aufzuzeigen, für Verständnis zu werben und Betroffene auf ihrem Weg zu unterstützen. "18 Mitglieder hatten wir anfangs, im Jahr 2000. Heute sind wir um die 80 - allesamt Angehörige aus ganz Oberfranken."


Neue Therapieformen

Kennenlernen und verstehen sollen Eltern, Geschwister oder auch Ehepartner die Entwicklungsstörung über Vorträge und den gemeinsamen Erfahrungsaustausch. Neue Therapieformen werden erläutert. Es gibt Informationen zu Anlaufstellen wie der Nürnberger Autismus-Ambulanz.
Darum wandte sich Dieter Sauer nun wieder einmal an die Öffentlichkeit - mit Unterstützung seiner Tochter Julia, die mit Fremden doch so ungern spricht.


Die Definition

Autismus wird von der Weltgesundheitsorganisation zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet. Er wird von Ärzten, Forschern, Angehörigen und Autisten selbst als eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns beschrieben, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht.

Andere Forscher und Autisten beschreiben Autismus als angeborenen abweichenden Informationsverarbeitungsmodus, der sich durch Schwächen in sozialer Interaktion und Kommunikation sowie durch stereotype Verhaltensweisen und Stärken bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz zeigt. (Quelle: Wikipedia)


Links

Unter www.autismus-ambulanz.de ist die Nürnberger Autismus-Ambulanz im Netz zu finden. Die Adresse des oberfränkischen Vereins zur Förderung von Menschen mit Autismus ist: www.autismus-oberfranken.de. Die Web-Adresse des Bundesverband lautet: w3.autismus.de.