Zehn Prozent der Schulanfänger in Bayern starten mit einem Jahr "Verspätung", deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt. Die Zahlen einer Studie aus Bamberg haben eine Diskussion über das Bildungssystem angestoßen.
Das Kultusministerium sieht seine Bildungspolitik bestätigt, der Lehrerverband spricht von einem Armutszeugnis: Eine Studie zur Zahl der Schulanfänger in Bayern ist ein Lehrbeispiel dafür, wie unterschiedlich man die gleichen Zahlen interpretieren kann.
"Pisa" war der Anfang: Seit der internationale Vergleich der Schülerleistungen mit den für Deutschland teils wenig schmeichelhaften Ergebnissen die Bildungslandschaft aufschreckte, vergeht kaum ein Jahr ohne eine neue Erhebung: Wie kann man Kinder besser fördern? Beginnt der Ernst des Lebens zu früh? Mit der letzten Frage haben sich Wissenschaftler der Universität Bamberg intensiv beschäftigt.
Die Ergebnisse der Biks-Studie (Abkürzung für "Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter") sorgen jetzt für Aufsehen: Wie Franziska Wehner von der Universität Bamberg erläutert, ist die Zahl der Kinder, die für ein Jahr von der Einschulung zurückgestellt werden, in Bayern in den letzten Jahren "auffallend gestiegen": 2004 blieben lediglich 3,6 Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter ein Jahr länger im Kindergarten, 2012 lag ihr Anteil bei 10,7 Prozent. Damit ist die Zahl der "Spätzünder" in Bayern größer als im Bundesdurchschnitt (sieben Prozent laut Bildungsbericht der Bundesregierung).
Die blanken Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, wie auch die Bamberger Wissenschaftlerin einräumt: Zum einen sinkt die Zahl der Schulanfänger in Bayern seit Jahren kontinuierlich, so dass der Anteil der zurückgestellten Kinder relativ größer wird. Zum zweiten, so Wehner, hat Bayern den Stichtag für die Einschulung vor sechs Jahren vom 30. Juni auf den 30. September verlegt. Die Abc-Schützen sind also jünger geworden, so dass sich mehr Eltern entscheiden, ihrem Kind noch ein Jahr "Pause" zu gönnen.
Interpretationen Den Schluss, dass Kinder in Bayern in ihrer Entwicklung hinter denen anderer Bundesländer zurückbleiben, lässt diese Studie also nicht zu. Wehner, die für die Studie auch die Eltern intensiv befragt hat, vermutet die Ursache eher dort als bei den Kindern: "Da hält sich vielfach hartnäckig die Meinung, dass mit dem Beginn der Schulzeit die Kindheit vorbei ist und der Ernst des Lebens beginnt", sagt die Wissenschaftlerin.
Wie sehr die Zahlen interpretationsfähig (und -bedürftig) sind, zeigt der Blick auf die Situation im Schulamtsbereich Bamberg. Laut Schulamtsdirektorin Barbara Pflaum geht die Zahl der zurückgestellten Schüler in der Stadt Bamberg deutlich zurück: von 12,14 Prozent im Schuljahr 2011/12 auf nur noch 7,7 Prozent 2013/14. Im Landkreis ist die Entwicklung gegenläufig: 2008 gab es 7,97 Prozent Zurückstellungen, 2013 waren es 9,73 Prozent. "Dabei fällt auf, dass es in manchen Orten kaum Zurückstellungen gibt, in anderen Orten dagegen sehr viele", sagt Pflaum.
Gegensätzlich sind auch die politischen Interpretationen: Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) wertet die Zahlen als Beleg für den Erfolg der bayerischen Bildungspolitik, spricht von "Flexibilität und Individualität". Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Klaus Wenzel, sieht dagegen eine Reaktion auf den wachsenden Druck schon auf die kleinsten Schüler. "Immer mehr Eltern wollen diese Turbobildung nicht", sagt er.
Einig sind sich alle, Wissenschaftler, Politiker und Pädagogen: Die Kinder brauchen mehr Zeit, der "Ernst des Lebens" muss ihnen noch Spaß machen.
Mehr Zeit brauchen die Kinder wirklich: Mehr Zeit -zum spielen
-kreativ zu sein
-um einfach mal zu faulenzen
-um soziale Kontakte zu pflegen
Um nur einige Beispiele zu nennen.
Der Druck fängt wirklich schon bei den Kleinen an, eigentlich schon vor der Schule. Wenn die Kinder nicht den Vorgaben der U beim Kinderarzt entsprechen, dann müssen sie Ergo und Logo machen, damit sie zum Regelwerk passen. Sollten wir unsere Kinder nicht einfach mal die Zeit geben, sich zu entwickeln. Und da greif ich auch die Eltern an. Denn jeder muss arbeiten, aber keiner hat mehr richtig Zeit für seine Sprösslinge im Alltag. Dafür gibt es dann Markenklamotten und Urlaub mehrmals im Jahr. Wenn da dann einige Kinder nicht mithalten können, werden die schon schief angeschaut oder noch mehr.
Aber jetzt bin ich weg vom Thema und habe mir mal wieder Feinde in der Elternschaft gemacht.
Bei uns in Bayern liegt einiges im Schulsystem im Argen. Es müsste mehr Gesamtschulen geben, wo die Kinder nicht gleich nach der 4. entscheiden müssen was sie wollen oder sollen. Denn in der Pubertät gibts doch die meisten Probleme in der Schule und da wirds, was z.B. das Gymnasium betrifft, schwierig, eine Stufe zurück in die Realschule zu gehen, ohne dass es dort weiter mit Problemen geht. Das Lernspektrum ist einfach zu unterschiedlich und im Gymnasium der Druck zu hoch. Vor allem dürfen diese Schüler nicht mehr kreativ sein. Warum gibt es denn kein Handarbeitsunterricht mehr, wie früher, im Gymnasium? Da kämen die Schüler wieder mal zum Luft holen. Oder warum wird der Kunstunterricht in manchen Schulen so zusammengeschrumpft? Versteh ich nicht!
Irgendwann haben wir viele, viele psychisch kranke Teenager. Der Anfang ist schon getan!
Wenngleich ich vielen Aussagen zustimme, warne ich vor dem Irrglauben, die Gesamtschule könnte das Problem lösen.
Zunächst sind Druck und Stoffülle anzugehen - an beidem ändert die Schulstruktur nichts.
Erfahrungen aus anderen Bundesländern belegen, daß die Gesamtschule zwar deutlich mehr Geld je Schüler kostet, aber mitnichten einen höheren Bildungserfolg zeitigt. Vielmehr sind Selektion und Aufteilung auf verschiedene Bildungswege / "Leistungs"niveaus noch rigoroser als im gegliederten Schulsystem - bei weniger Durchlässigkeit nach "oben" und geringerem Einfluß der Eltern auf die Wahl des angestrebten Schulabschlusses. Und die "Gescheiterten", also Herabgestuften, begegnen den "erfolgreicheren" (Ex-)Schulkameraden auch noch täglich - Raum für Häme und Schadenfreude im Überfluß.
Der Grundfehler im Schulsystem (neben Druck und Stoffülle) ist: Verschiedene Schulabschlüsse mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten wurden weitgehend aufgegeben zu Gunsten eines Systems, das unter dem Ideal des theoretischen Allgemeinwissens nach gut (Gymnasium), mittel (Realschule) und schlecht (Haupt- bzw. Mittelschule) selektiert. Statt also differenziert ausgerichtete Begabungen, Talente und Interessen jeweils zielgenau zu fördern - mit der Möglichkeit, ggf. zu wechseln -, wurde die "Gesamtschule" in das gegliederte Schulsystem transferiert. Zugegeben - vorstehende Ausführungen vereinfachen extrem. Doch die zu Grunde liegende Problematik tritt so deutlich zu Tage.
Und noch eines: Bildung als Ziel tritt immer weiter in den Hintergrund. Statt dessen erfolgt ein Vollstopfen mit Fakten- und Detailwissen, das jeglichen Ansatz kreativen Lernens im Keim erstickt. Offenkundiges Ziel: Die angepaßte Arbeitskraft. Gefürchtete Alternative: Der mündige Bürger mit eigener Meinung.
"Die blanken Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen", heißt es, und dann werden die Gründe dafür aufgezählt. Nur: Da alle entsprechenden Daten den Verantwortlichen bekannt sind, wäre es ein Leichtes, die Vergleichbarkeit rechnerisch herzustellen. So bleibt der Informationsgehalt eher dürftig bis Null. Der Verdacht, man scheue die Veröffentlichung harter, belastbarer Fakten, kommt da ganz natürlich auf.
Der Druck auf die Kinder setzt sich fort. Wenn im vierten Schuljahr im Hinblick auf den Schulübertritt nahezu jede Woche Probearbeiten in den Fächern Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachkunde geschrieben werden müssen, geht beinahe zwangsläufig der Spaß am Lernen, eine der Grundvoraussetzungen für langfristigen Erfolg, verloren - nein: Er wird geradezu ausgetrieben. Im ehemaligen Agrarland sollte bekannt sein: Die Kuh wird nicht vom häufigen Wiegen fett.
9- bis 10-jährige Kinder sitzen teils zwei bis drei Stunden täglich an einer Fülle an Hausaufgaben. Um allein die Menge zu Papier zu bringen, wird derart viel Zeit benötigt, daß vertiefende Beschäftigung mit der Materie gar nicht mehr möglich ist. Und wo bleibt noch Raum für Freizeit und Spiel oder Hobbys?
Daß zudem im Freistaat Bayern der schulische Erfolg wie sonst kaum irgendwo in der indutrialisierten Welt vom Geldbeutel der Eltern abhängt, belegt klar das Versagen der Bildungspolitik. Da ist es nur noch eine Randanekdote, daß offizielle Schreiben der Schule etliche Rechtschreib- und Grammatikfehler aufweisen - aber das hat ja schon im Kindergarten angefangen.