Wie ein Psychomärchen
Natürlich wirkt die ganze Sache ein bisschen wie ein Psychomärchen, weil alles so wunderbar glatt geht, weil man sich auch im norwegischen Sozialsystem nur schwer vorstellen kann, dass zwei derart labile Menschen in eine Wohnung in einer Großstadt entlassen werden, wenn auch mit sporadischer Betreuung. Aber darum geht es in dem Stück auch nicht.
Es geht um die inneren Prozesse von zwei vollkommen verschiedenen Menschen, die zwei Jahre lang keine eigene Entscheidung treffen durften und konnten, für die die Außenwelt erst einmal feindliches Gelände ist, die sich nicht einmal trauen zum Hörer zu greifen, wenn das Telefon klingelt, die ganz praktische Dinge lernen müssen wie einkaufen oder putzen, die die Öffentlichkeit wieder entdecken müssen. Und die vor allem sich selbst wieder lernen müssen.
Bis ins kleinste Detail
Stella Seefried hat dieses Mal inszeniert, und sie hat mit ihrem Darstellerquartett Ingo Pfeiffer (Elling), Tobias Wollschläger (Kjell Bjarne), Yannick Rey (Frank) und Anna Schindlbeck (Gunn, Kellnerin, Reidun) ein ausgesprochen feinfühliges, höchst präzises und auch höchst sehenswertes Zusammenspiel bis hin in die kleinsten Details der Gestik und vor allem der Mimik entwickelt.
Bei Kjell Barne ist das nicht ganz so wichtig, weil der der Extrovertierte der beiden Männer ist, der gerne mal losstürmt und sich dann erst fragt: Wohin? Der aber ständig Telefonsexnummern wählt und so die Telefonrechnung in ungeahnte Höhen treibt. Der sich in die Liebe zu der Nachbarin Reidun stürzt, die er sturztrunken und hochschwanger im Treppenhaus gefunden hat, und sich an sie ranmacht - er, der vorher noch nie ein Verhältnis gehabt hatte. Tobias Wollschläger spielt nicht nur dieses Getrieben-Sein mit einer köstlichen Note, sondern auch den plötzlichen Argwohn gegenüber Elling, den er für seinen Nebenbuhler hält.
Gedichte in Sauerkrautpackungen
Dabei scheint es für den nichts Schlimmeres zu geben als körperliche Nähe oder gar Berührung. Obwohl er ein gutes Einschätzungsvermögen hat, zieht er sich sofort zurück, wenn etwas anders ist als erwartet. Ingo Pfeiffer spielt eine höchst zerbrechliche Seele, und die zeigt sich nicht nur in seiner retardierten Körpersprache, sondern auch in einer permanenten Mimik des Grübelns, Zweifelns und Fürchtens. Das fast zwei Stunden konzentriert durchzuhalten ist an sich schon eine enorme Leistung.
Aber so wie Kjell Bjarne, für den Reidun, jetzt mit Säugling, ein erstes, etwas wackliges persönliches Ziel ist, glaubt auch Elling eine Bestimmung zu finden: als Poet mäßiger Gedichte. Da er sich damit aber nicht an die Öffentlichkeit traut, steckt er die Textzettel mit Pseudonym im Supermarkt (dahin traut er sich schon) in Sauerkrautpackungen. Immerhin ein Thema für die örtliche Zeitung. Aber er kann sich ja nicht zu erkennen geben.
Yannick Rey spielt den Betreuer Frank als einen Menschen, der es zwar gut meint, aber auch nur wenig Interesse für seine Klienten hat. Er ersetzt seine fehlende Kompetenz durch Schulterklopfen und den penetranten Satz: "Ihr schafft das schon". Er verzieht sich hinter sein Handy und leidet sichtlich darunter, dass ihn seine Frau gerade verlassen hat.
Norwegisches Flair
Die Rollen der Krankenbetreuerin Gunn und der Kaffeehausbedienung waren für Anna Schindlbeck Peanuts. Aber als volltrunkene Reidun kurz vor der Geburt des Kindes und in der Klemme zwischen ihrem Mexikaner und Kjell Bjarne konnte sie ein paar köstliche Ausrufezeichen setzen. Überhaupt: Es durfte gelacht werden.
Norwegisches Flair verströmte das Bühnenbild von Robert Pflanz mit seinem warmen Holzton und vielen verborgenen Fächern, das sich leicht verschieben ließ, um neue Räume zu öffnen. Sehr schön typengerecht waren die Kostüme von Daniela Zepper - vor allem das von Elling; hochgeschlossen und von wirrer Buntheit wirkt es wie ein Schneckenhaus, in das sich sein Träger flüchten oder zurückziehen kann, wenn es mal wieder brenzlig wird.
Nicht enden wollender Beifall.