Grigory Sokolov spielte im Großen Saal Schumann und Chopin.
"Das ist ein besonderes Konzert. Bitte überprüfen Sie alle, dass Ihre Handys ausgeschaltet sind", bat Intendantin Dr. Kari Kahl-Wolfsjäger das Publikum im Großen Saal. In der Tat: Grigory Sokolov, der sich auf dem Tonträgermarkt eigentlich immer rar gemacht hat, ist gerade dabei, eine neue DVD zu produzieren. "Vielleicht", so die Intendantin weiter, "wird ja dann die Kissinger Aufzeichnung veröffentlicht."
Das Publikum gehorchte.
Die Stille im Saal war groß, so wenig verhustet, dass man fast nur einen einzelnen knarrenden Stuhl hören konnte. So gesehen könnte die Aufzeichnung sogar zum Zuge kommen. Aber Sokolov, der ja sehr akribisch ist, dürfte ein paar Einwände haben. Denn auch er ist von Fehlgriffen nicht ganz frei, auch wenn sie bei ihm keine so große Rolle spielen, im Livebetrieb des Konzerts schon gleich gar nicht.
Gegen die
Hörerwartungen
Ob die DVD der große Renner wird, ob ihm seine Fans da folgen werden, das wird sich zeigen, denn Sokolov erfüllte nicht unbedingt die Hörerwartungen. Vor allem nicht bei Robert Schumann. Etwa bei seiner Arabeske C-dur op. 18. "Schwächlich und für Damen" nannte Schumann selbst diesen Satz, der mit seinen reichen Verzierungen "leicht und zart" zu spielen ist.
Sokolov nahm das mit den Verzierungen sehr ernst, spielte sie sehr genau aus, aber er langte hin. Natürlich hat er da zum Teil ganz erstaunliche Klangfarben, aber er gab dem Satz dadurch eine Bedeutungsschwere, die er nicht hat. Und er schmälerte dadurch die kontrastierende Wirkung der beiden Minore-Teile, die die Musik normalerweise ein bisschen erden sollen.
Noch weiter ging Sokolov in der Fantasie f-dur op. 17.
Da betrieb er eine Entromantisierung, die ihn ihrer Heftigkeit überraschte. Da entwickelte er eine Expressivität, die er seinem Publikum normalerweise verweigert, aber sie richtete sich eher auf die Zurschaustellung des Virtuosen: Die Pianisternpranken aus zwei Metern Höhe auf die Tasten fallen zu lassen sieht vielleicht spektakulär aus, bringt aber nichts. Die Kraft entsteht an anderer Stelle.
Auch hier hatte Sokolov tolle Farben, aber er ignorierte die Schumannschen Phrasierungen, spielte kantig, zerstückelt und in den Wiederholungen auch ziemlich undifferenziert. Dem Schlusssatz mit seinen triumphalen Aufschwüngen bekam die Härte allerdings gut, weil sie das Pathos aussperrte.
Die beiden Nocturnes op. 32 in H-dur und As-dur zeigten einen bekannteren Grigory Sokolov.
Da hatte er seine lyriosche, sangliche Ader wiederentdeckt, auch wenn er auch hier nicht auf Ausbrüche verzichtete. Aber sie waren konzptionell plausibel.
Konfrontative Sonate
Den drängenden Grave-Einstieg in die b-moll-Sonate op. 35 hat Olga Kern fünf Tage vorher klarer gespielt. Aber Sokolov nutzte dieses Gemenge zu einem Sprung in das stetig stärker bewegte Hauptthema, in die Unerbittlichkeit mit gespenstischen Ecken.
Auch das Scherzo wurde in seiner Unerbittlichkeit zur Einstimmung auf den berühmten Marche funèbre des dritten Satzes, den Chopin schion zwei Jahre vorher komponiert hatte. So machte Sokolov deutlich, dass die ganze Sonate auf diesen Satz hinkomponiert war.
Den Marsch selber spielte er in einer sehr freien, schwankenden Agogik, die das Voranschreiten fast aus dem Tritt geraten ließ. Der liedhafte Mittelteil wurde wurde zu einer wunderbaren - aber trügerischen
- Beruhigung.
Man könnte darüber diskutieren, ob die harmonischen Rückungen in diesem Liedteil deutlicher herausgestellt werden sollten (sie müssen nicht). Aber es war schade, dass Sokolov den tollen Eindruck dieser Passage zertrümmerte, als der Marsch wieder einsetzte. Ein derart lautstarker, harter Wiedereinstieg wäre nach der Notierung nicht nötig gewesen.
Dafür war das Finale phänomenal: ein echtes Presto, ganz im Sinne Chopins absolut gleichmäßig durchgehalten, ohne jede Schwankung, die gerne als Gestaltung verkauft wird. Da hatte der Virtuose das letzte Wort.
Und dann eröffnete Schubert den schon institutionalisierten und von den Fans auch erwartete Reigen der Zugaben ...